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der wir seltsamerweise ideale, manchmal sogar fast kitschige Figuren eher herauskratzten als mit Pinsel und Farbe ausarbeiteten. Wir meinten, wir praktizierten­ rock on canvas, Rockmusik auf der Leinwand, und zwar hauptsächlich aus einem Grund: Wir malten zu zweit um Klassen besser als allein.

      Ich denke, die Entwicklung der Rockmusik in den sechziger und siebziger­ Jahren ist das Ergebnis vergleichbarer kreativer Prozesse zwischen zwei, drei oder mehr Menschen. Sie werden dadurch ausgelöst, dass sich ungleiche Individuen auf der Suche nach Harmonie zusammentun und ihre internen künstlerischen Auseinandersetzungen vor einem Publikum austragen – offensiv, aber in geregelten, reproduzierbaren, kunstvollen Abläufen. Mit der elektronischen Musik wurde die kreative Spannung innerhalb von Künstlergruppen­ sogar physikalisch messbar, in Volt und Watt; The Who haben mit ihrer ausgeprägten Verschiedenartigkeit die musikalische Reibungsenergie wohl auf eine Weise kultiviert wie keine andere Rockgruppe. Wahrscheinlich hat mich das angezogen. Ich fühlte eine große Neugier und Sehnsucht, nachzuspüren, wie die kreativen Abläufe bei den Rockmusikidolen aus meiner Sturm- und Drangzeit funktioniert hatten, und als The Who 2006 endlich wieder nach Deutschland kamen und ich immer noch keine Biografie über sie finden ­konnte,­ die mir die unverändert machtvolle Energie dieser Gruppe schlüssig erklärte,­ begann ich abermals die Malerei mit der Schreibarbeit zu tauschen.

      Ich hoffe, der Leser wird mir nachsehen, dass meine Geschichte der interessantesten Rockband aller Zeiten so voluminös geworden ist. Halbe Sachen passen wohl nicht zum Gegenstand meiner Beschreibung: The Who sind nicht zuletzt ob ihres künstlerischen Eigensinns so tief und so weit vorgedrungen, dass sie ihre Fans fortwährend und innig berühren, und an dieser künstle­rischen Freiheit habe ich mir ein Beispiel genommen.

      Letztlich ist es ein Mysterium, was Menschen dazu bewegt, die Welt mit Dichtung, Malerei und Musik auszugestalten. Diesem Mysterium, das man gleichwohl erfahren und beschreiben kann, habe ich mit meinem Epos über die Helden meiner Jugend ein Denkmal zu setzen versucht.

      Christoph Geisselhart

      Zweites Buch: Rock Is Dead – Long Live Rock (1971 bis 1978)

      „Man erwartete von uns, dass wir ,My Generation’ spielten und unsere Gitarren zerschlugen.“

      John Entwistle

      „Ich hab’ so viele Downers genommen, Tabletten, Mandrax, dass ich weiß: Ich werde sterben.“

      Keith Moon in seiner Rolle als verrückte Rock’n’Roll-Nonne in Zappas Roadmovie 200 Motels (1971)

      Erfolgreich zu sein ist für Künstler oft eine teuflische Falle. The Who hatten nach ihren Erfolgen im Sommer 1971 einen Gipfel erreicht, von dem aus es eigentlich nur noch bergab gehen konnte. Soeben war ihr heute legendäres Rockalbum Who’s Next erschienen (siehe Band eins dieser Biografie), das die Hitparaden erstürmte. Who’s Next wurde die erste und bislang einzige Nummer eins der Gruppe, und alle Kritiker lobten das Album in den Himmel, obwohl sein musikalischer Schöpfer Pete Townshend es zunächst nur als eine Art Abfallprodukt betrachtete, das die glanzvolle Ausgangsidee seines multimedialen und futuristischen Musikkonzepts Lifehouse, mit dem er dem Niedergang der Rockmusik Einhalt gebieten wollte, höchstens ansatzweise widerspiegelte.

      Aus heutiger Sicht ist Petes Enttäuschung nachvollziehbar. Damals gab es in der Tat wenige Menschen, die sich kritisch damit auseinandersetzten, dass der Rock’n’Roll seine Glaubwürdigkeit und die magnetische Anziehungskraft einzubüßen drohte, die er als führende Kraft und unüberhörbare Stimme der Jugendbewegung einstmals unangefochten besessen hatte. Rock’n’Roll stand zwar immer noch für sternhelle Ideale wie Gerechtigkeit, Rassengleichheit oder spirituelle Befreiung, doch mit der kommerziellen Ausbeutung von Rockmusik und Pop gerieten solche immateriellen Werte spürbar ins Abseits.

      Zudem zeigte sich, dass der Starkult teilweise beschämende Auswirkungen gezeitigt hatte. Der naive Umgang mit Drogen und Alkohol hatte die ersten Toten gefordert, und die Innovationsfähigkeit der bis dahin unbesiegbar erscheinenden elektrischen Musikrevolution kam mit der einziehenden Dekadenz allmählich zum Stillstand. Im Tonstudio wurde nach und nach so ziemlich alles möglich, was sich die Musiker wünschten. Das war bequem und mochte künstlerisch befriedigend sein; die Massen freilich wollten ihre Idole weiterhin live sehen, wollten unverändert der energiegeladenen Heilswirkung teilhaftig werden, die sensible Musiker wie Pete Townshend bei Rockkonzerten­ aufspürten und wachzurufen verstanden. Um den gewaltigen technischen Aufwand zu finanzieren, den solche Rockmusikmessen in Fußballstadien oder Eissporthallen nötig machten, entfernte sich der Rock’n’Roll allerdings noch weiter­ von seinem Ausgangspunkt wie von seinen Zielen.

      Man könnte auch sagen, die Rockmusik war dabei, sich von ihren Wurzeln­ abzukoppeln. Das Gewaltige der Musik – und des Rock’n’Roll im Besonderen­ – ist ja ihre Unmittelbarkeit. Jede Musikaufführung lässt uns am Schöpfungs­prozess teilhaben, während andere Kunstformen wie Literatur oder Malerei den mystischen Prozess der Kunsterzeugung von der späteren Rezeption eindeutig trennen. Das Ereignis der Klanggewinnung bei einem Konzert findet dagegen im selben Moment statt, in dem wir es hören – das ist, als blickten wir einem Maler beim Bearbeiten der Leinwand über die Schulter oder hörten­ den Dichter denken. Und zwar jetzt! Die Gleichzeitigkeit von Schöpfung und Kunstgenuss bei Anwesenheit des Schöpfers und des wahrnehmendem Beobachters ist ein unerhörter metaphysischer Vorgang, den Mystiker aller Kul­turen­ in anderen Zusammenhängen als spirituelle Gipfelerfahrung bezeichnen. Eine Zeitlang dachte man sogar, die Wucht der elektrischen Jugendmusik könne die westliche Welt aus ihrer religiösen Krise befreien. Doch dann kam das Kapital, suchte nach Wegen, das Heilmittel zu konservieren und reproduzierbar zu machen; die Musiker begannen die Annehmlichkeiten in den Tonstudios zu schätzen und die Strapazen von Tourneen zu scheuen, und die vor purer elektrischer Energie bebenden, schlecht beleuchteten, rauchgeschwängerten Bretterbühnen der Klubs und Kneipen rentierten sich nicht mehr. Wie konnte der Rock’n’Roll in dieser veränderten Welt überleben?

      The Who wählten nach einigen sogar durchaus erfolgreichen Versuchen, sich dem Wandel der Zeit anzupassen, letztlich die einzig passende Möglichkeit für eine Rock’n’Roll-Band der ersten Stunde: Sie traten live auf. Roger, John und Keith sorgten unablässig dafür, dass die Musik, die Pete in gedeihlicher, aber synthetischer Umgebung komponierte, nicht nur aus der Konserve kam, sondern vor allem auf den Bühnen der Welt zu hören war. Und das war gut so.

      Der Sommer 1971, mit dem der nächste Abschnitt in der Geschichte der Who beginnt, markierte auch ziemlich exakt die Halbzeit der vierzehnjährigen Ära des Trommelgenies Keith Moon in der Gruppe. Sieben Jahre zuvor, am 2. Mai 1964, hatte er seinen ersten offiziellen Auftritt mit The Who gefeiert. Die Leser des ersten Bands werden sich vielleicht noch an die wenig erfolgverheißenden Begleitumstände dieser Veranstaltung erinnern: Es war die Geburtstagparty eines unbekannten Mädchens in einer namenlosen Kneipe in West-London; der Strom fiel aus, und Keith spielte das erste und fast einzige Schlagzeugsolo seines Lebens. Ein paar Tage später begannen die Plattenaufnahmen unter dem Namen The High Numbers – unter der Aufsicht ihres tablettensüchtigen PR-Managers, des Modpriesters Peter Meaden, und misstrauisch beäugt von einem Talentsucher im Auftrag der Plattenfirma, bei dem sich Keith am Schlagzeug gegen einen bebrillten Konkurrenten namens Brian Redman aus Liverpool durchsetzen musste.

      In den sieben Jahren seither hatten Keith Moon und die Who fast alles erreicht, was der Rock’n’Roll einem Mensch zu bieten hat – und wovon die Band bis heute profitiert. The Who – und mit ihnen die gesamte Jugendmusik­ der sechziger und siebziger Jahre, die man damals noch pauschal Rock’n’Roll oder Rock nennen durfte, ohne sich in cool klingenden musikalischen Gattungsbegriffen oder Subordinationen verheddern zu müssen – schienen in den Augen ihres Songwriters Pete Townshend in eine fatale Sackgasse gestolpert. Doch kaum wurde ihm das in ganzer Wucht bewusst, begannen The Who schon wieder an einem neuen Konzeptalbum zu arbeiten, dessen Titel die Ära des Niedergangs in eine absurde ­Formel gießen sollte: Rock Is Dead – Long Live Rock. Pete wollte in diesem Doppelalbum ähnlich wie in seinem gescheiterten Lifehouse-Projekt die Geschichte der Gruppe und der Rockmusik insgesamt aufarbeiten. ­­

      Allerdings entwickelten sich die Prozesse im Studio abermals fort von der Anfangsidee, und The Who besannen sich schon bald wieder darauf,

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