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Der Serienmörder von Paris. David King
Читать онлайн.Название Der Serienmörder von Paris
Год выпуска 0
isbn 9783854454366
Автор произведения David King
Издательство Bookwire
Der Brief war mit „Jean Marc Van Bever“ unterzeichnet worden.
Warum aber sollte Van Bever sich die Mühe machen, einen Brief zu schreiben, in dem er zwei Drittel des Textes für das Eingeständnis einer Drogenabhängigkeit aufwendete, die entweder gar nicht zutreffend war oder aber, träfe sie zu, keine Neuigkeit gewesen wäre. Und warum verschwendete er den knappen Platz, um Petiots Aussage zu erhärten? Warum unterzeichnete er einen Brief an die Geliebte mit seinem vollständigen Namen? Fragen über Fragen. Van Bevers Rechtsanwalt zweifelte deshalb sofort daran, dass die Briefe von seinem Mandaten geschrieben wurden.
Die Polizei setzte die Suche nach Van Bever fort und durchkämmte systematisch Bars, Gefängnisse, Krankenhäuser, Notunterkünfte, ja sogar Leichenhallen und weitere in Frage kommende Orte in der Hauptstadt und dem Umland, was aber erfolglos blieb. Die Verhandlung gegen die Angeklagten fand wie geplant am zehnten Polizeigerichtshof statt. Man erklärte Van Bever für schuldig in Abwesenheit und verurteilte ihn zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 10.000 Francs. Doch er tauchte nie wieder auf.
Jeanette Gaul wurde zu einer sechsmonatigen Haftstrafe und einer Geldstrafe von 2.400 Francs verurteilt, doch sie kam schon im Mai 1942 wieder auf freien Fuß, also drei Monate später, gerechnet vom ersten Tag der Untersuchungshaft. Daraufhin verdiente sie sich den Lebensunterhalt wieder als Prostituierte, wurde rückfällig und suchte Dr. Petiot sogar erneut auf. Gaul verstarb drei Monate später an Wundstarrkrampf, verursacht durch eine verdreckte Injektionsnadel.
Petiot führte während der Verhandlung an, dass Van Bevers Verschwinden – „Er wagt es nicht, hier zu erscheinen“ – seine eigene Unschuld beweise. Er kam schließlich mit einer Geldstrafe von 10.000 Francs davon, gegen die sein Rechtsanwalt René Floriot Einspruch einlegte. Letztendlich reduzierte man sie auf 2.400 Francs, allerdings erst Monate später. Dr. Petiot hatte seinen Kopf aus der Schlinge gezogen und eine weiße Weste behalten.
Während sich die Wogen der „Van Bever / Gaul“-Ermittlung glätteten, zog für Petiot allerdings schon neues Unheil am Horizont herauf – ein zweites Drogendelikt. Die Begleitumstände waren ähnlich. Angeblich hätte er eine Patientin entgiftet, die daraufhin durch Tricks und Täuschung versuchte, an mehr Drogen zu gelangen. Als der Fall ans Tageslicht gelangte, zeigten sich sogar weitere verblüffende Parallelen:
Bei der Patientin handelte es sich um die 28-jährige Régine oder Raymonde Baudet. Anfang 1942 verschrieb ihr Petiot Soneryl, ein mildes Schlafmittel. Baudet versuchte das Wort „Soneryl“ durch „14 Violen Heroin“ zu ersetzen, ein allzu offensichtlicher Trick, der den Apotheker in der Rue des Écoles nicht täuschen konnte. Er benachrichtigte die Polizei. Baudet wurde am 16. März 1942 verhaftet, das insgesamt vierte Mal in Folge von Drogendelikten. Zweimal war sie bislang schuldig gesprochen worden.
Erneut vor Gericht gezerrt, gab Petiot offen zu, dass er Baudet von ihrer Sucht habe befreien wollen. Er hatte schon vier Rezepte für Heroin ausgestellt, und zwar unter dem von ihr angegebenen Namen Raymonde Khaït (den Nachnamen hatte sie sich von ihrem Stiefvater „ausgeliehen“). Wie er weiter aussagte, verweigerte er zusätzliche Rezepte und schlug stattdessen ein Sedativum vor. Es könne dann doch wohl kaum seine Schuld sein, wenn die Patientin gemeinsam mit einem ihrer Geliebten, einem gewissen Daniel Desrouët, versuchte habe, das Rezept zu fälschen.
Beweise für eine Mitwisserschaft Petiots bei der Fälschung lagen nicht vor, doch sein nächster Schachzug war mehr als überraschend und verursachte neue Komplikationen hinsichtlich einer gerechten Urteilsfindung. Einer Zeugenaussage von Raymondes Halbbruder Fernand Lavie zufolge, einem 36-jährigen Buchhalter der Polizeipräfektur, suchte Petiot dann das Haus ihrer Mutter, der 53-jährigen Marthe Antoinette Khaït, auf. Es lag in der Rue de la Huchette im Quartier Latin. Nachdem er das im selben Haus untergebrachte und von der Abwehr kontrollierte Cabaret El Djezair passiert hatte, betrat Petiot das Appartement und machte ihr wegen der Verfehlungen der Tochter schwere Vorwürfe. Anschließend bot er seine Hilfe an. Zuerst müsse man einen guten Rechtsanwalt verpflichten, und er sei bereit, für die Kosten aufzukommen.
Der Arzt machte Madame Khaït den Vorschlag, sich selbst als Drogenabhängige auszugeben, um damit der Tochter eine lange Gefängnisstrafe zu ersparen. Die Behörden würden es sicherlich glauben, denn Raymonde habe der Polizei bereits berichtet, dass sie und die Mutter die verschriebenen Dosen, ausgestellt auf den Namen Khaït, untereinander geteilt hätten. Um diese Finte zu unterstützten, bot Petiot der Frau an, ihr ungefähr ein Dutzend Injektionen [wahrscheinlich Kochsalzlösung] in den Oberschenkel zu verabreichen, die im Fall einer medizinischen Untersuchung durch die Polizei den „eindeutigen“ Beweis der Sucht erbrächten. Wie Petiot versicherte, seien die Injektionen völlig harmlos.
Khaïts Sohn war von dem Vorschlag schockiert. Unter keinen Umständen – das riet er der Mutter – solle sie sich für so ein Täuschungsmanöver hergeben. Allerdings hatte Petiot Madame Khaït dank seiner augenscheinlichen Großzügigkeit und Hartnäckigkeit bereits auf seine Seite gezogen. Nach so vielen Jahren, in denen sie die Tochter unterstützt hatte, würde sie auch in so einer Situation nicht von ihrer Seite weichen. Petiot und Khaït gingen daraufhin in das andere Zimmer. Wenige Minuten später verließ der Arzt die Wohnung.
In dieser Woche, vermutlich ein oder zwei Tage später, kam ihr jedoch die späte Erkenntnis, das gemeinsame Täuschungsmanöver mit dem Ziel der absichtlichen Irreführung der Behörden nicht weiter verfolgen zu wollen. Khaïts Sohn hatte sie, wie auch ihr Mann und der Hausarzt Dr. Pierre Trocmé, der sich über das Verhalten des Kollegen zutiefst empörte, wegen der Mittäterschaft zurechtgewiesen. Zuerst konnte Trocmé gar nicht glauben, dass ein zugelassener Arzt solch einen Ratschlag gab. Er bedrängte Madame Khaït, den Vorfall der Polizei zu melden. Falls sie sich weigere, übernähme er es selbst.
Nachdem sie dem Gatten erzählt hatte, dass sie Dr. Petiot aufsuchen wolle und danach den Anwalt ihrer Tochter, verließ Madame Khaït am 25. März 1942 um etwa 19 Uhr die Wohnung. Es würde nicht allzu lange dauern, meinte sie. Über die Absicht des Besuchs machte sie keine näheren Angaben. Sie nahm weder den Ausweis noch Lebensmittelkarten oder ihr Portemonnaie mit. Auf dem Herd köchelte das Abendessen in einem großen Topf.
Am folgenden Morgen – Madame Khaït war noch nicht wieder zurückgekehrt – hatte ein Unbekannter zwei Briefe unter der Tür durchgeschoben. Der eine war an ihren Mann David gerichtet, einen jüdischen Schneider, und der andere an den Sohn Fernand. Beide waren angeblich von Madame Khaït verfasst worden. David öffnete den an ihn gerichteten Brief und las voller Überraschung:
Mach dir um mich bitte keine Sorgen. Sag bitte niemandem etwas, und geh auf gar keinen Fall zur Polizei. Ich mache das alles nur im Interesse von Raymonde. Dr. Petiot hatte recht. Es ist besser, wenn die Polizei glaubt, ich sei eine Drogenabhängige. Ich bin nicht in der Lage, eine Vernehmung durchzustehen. Ich werde versuchen, in die unbesetzte Zone zu entkommen. Du kannst auch dieselben Mittel einsetzen, um mir zu folgen. Später wird Raymonde zu uns stoßen.
Dann gestand sie – was ihr Gatte als sonderbar empfand –, schon seit Jahren schmerzlindernde Medikamente wegen eines Herzleidens genommen zu haben. Der an Fernand gerichtete Brief hatte einen ähnlichen Inhalt. Beide Briefe waren mit dem Schreiben im Fall von Van Bever nahezu identisch, denn sie enthielten ein Geständnis und eine Erklärung für das plötzliche Verschwinden (in beiden Fällen verschwanden die Personen schnell und ohne zu packen). Sogar die Methode und der Zeitpunkt der Zustellung waren nahezu identisch. (Beide Male gab die unterzeichnende Person ihren vollständigen Namen an.) Einige Experten würden später die Meinung vertreten, dass sich auch die Handschriften in graphologischer Hinsicht ähnelten und wahrscheinlich von ein und derselben Person stammten, doch diese Ansicht war anfechtbar.
David Khaïts Auffassung nach schien es die Handschrift seiner Frau zu sein, woraufhin er schlussfolgerte, dass sie die beiden Briefe geschrieben