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bei einem Abendessen kennengelernt, wo Delaveau, eine 24-jährige Brünette mit dunklen Augen, die Mahlzeit serviert hatte. Petiot hatte sich augenblicklich zu der Frau hingezogen gefühlt. Sein Freund René Nézondet hatte ihn niemals in so einer Hochstimmung erlebt.

      Petiot nutzte seine zahlreichen Kontakte in der Stadt, um mehr über die Frau herauszufinden. Er erfuhr, dass sie gerne in der Rue Carnot einkaufte, die Messe in Notre Dame besuchte und gelegentlich in Frascots Bistro ausspannte. Der Besitzer der Gaststätte, Léon Fiscot, auch genannt „der alte Frascot“, gehörte zufällig zu Petiots Patienten. Überrascht und über die Gelegenheit erfreut, hier als Kuppler zu agieren, stimmte Frascot der Rolle des Vermittlers zu. Petiot schrieb der jungen Frau einen Brief und bat seinen Freund darum, ihn zu überbringen. Louise sollte ihn, im Fall, dass sie interessiert wäre, in der Praxis anrufen oder ihn in seinem Haus in der Rue Carnot besuchen.

      Als sie Petiot am darauffolgenden Tag anrief, verabredeten sich die beiden zu einem abendlichen Rendezvous in Frascots Bistro. Das Treffen verlief vielversprechend und endete mit einem romantischen Spaziergang zu Petiots Haus. Die beiden trafen sich von nun an heimlich und arrangierten spontane Schäferstündchen. Schon kurz darauf zog Louisette beim Doktor ein. Um den Schein zu wahren, wurde sie seine Köchin und Haushälterin.

      Die Schwierigkeit, mit einem Menschen wie Petiot zusammenzuleben – obsessiv, zwanghaft und schon damals dazu neigend, sich bei Auktionen „Schnäppchen“ zu sichern –, forderte schon bald seinen Tribut. Weitere Spannungen zeigten sich, nicht zuletzt, da Petiot eine Affäre mit einer Patientin begonnen hatte. Möglicherweise war Delaveau schwanger, wie sie einer Freundin anvertraute, sie versicherte dabei aber, dass sich Petiot darum kümmern würde. Man vermutete schon länger, dass der junge Arzt sich mit illegalen Abtreibungen einen Nebenverdienst sicherte.

      Im Mai 1926 verschwand Louisette Delaveau. Freunden erklärte Petiot ihre „Abreise“ als Folge eines turbulenten Streits, der sie quasi aus der Stadt stürmen ließ, ohne einen Zielort anzugeben. René Nézondet erinnerte sich an die Gemütsverfassung des Freundes, der wie am Boden zerschlagen wirkte. Bei einem gemeinsamen Mittagessen kurz nach dem Vorfall begann Petiot zu weinen. Dann starrte er ziellos in die Ferne. Sogar seine Hände zitterten stärker als gewöhnlich.

      Wie sich herausstellte, hatte sich Louisette weder von ihrer Freundin noch von anderen Bekannten verabschiedet. Sie hinterließ keine Nachsende-Adresse. Auch verzichtete sie auf die Mitnahme von persönlichem Besitz. „Falls sie in meiner Abwesenheit zurückkehrt“, beauftragte Petiot Suzanne, die die Stelle Louisettes zwischenzeitlich eingenommen hatte, „dann erklären Sie ihr, wo sie ihre Sachen finden kann, und überreichen ihr diesen Brief“. Die neue Angestellte erfuhr nicht, was in dem Brief stand. Louisette kehrte jedoch niemals zurück.

      Nur wenige vermuteten damals ein Verbrechen. In einem an die Polizei gerichteten Schreiben wurde Petiot zwar des Mordes an seiner Geliebten beschuldigt, doch die Ermittler fanden keinerlei Hinweise auf eine solche Tat. Daraufhin stellte man die offizielle Suche nach wenigen Monaten ein.

      Berichten zufolge wurde Petiot nicht lange nach Louisettes Verschwinden dabei gesehen, wie er einen großen Rattankorb in den Kofferraum seines Sportwagens lud. Die Zeugenaussage gewann wenige Tage später an Bedeutung, als der Leichnam einer jungen Frau in den Mittzwanzigern in einem ebensolchen Korb außerhalb von Dijon gefunden wurde. Kommissar Massu konnte den Stellenwert des Fundes besser einschätzen als seine Kollegen damals, denn ihm standen zusätzliche Informationen zur Verfügung. Die Leiche in dem Korb war geköpft worden, der Körper zerstückelt und die inneren Organe waren herausgeschnitten worden …

      Massu führte seine Ermittlungen immer methodisch und mit so geringer emotionaler Beteiligung wie möglich durch. Er versuchte nicht, zwischen „großen“ und „kleinen“ Verbrechen zu unterscheiden, oder wie er es nannte: interessanten und uninteressanten Fällen. Bei jedem Fall handelte es sich im Grunde genommen um Opfer und Täter – die erste Gruppe musste identifiziert und die zweite festgenommen und der Justiz zugeführt werden. Nicht mehr und auch nicht weniger. „Mord ist Mord“, sagte er nüchtern.

      Massu war ein gebürtiger Pariser, der am 9. Dezember 1889 zur Welt gekommen war. Der Vater starb in seinem zweiten Lebensjahr, und die Mutter musste die Familie daraufhin allein ernähren. Sie arbeitete in einem Lebensmittelgeschäft. Im Alter von 13 Jahren begann Massu die Arbeit bei einem Fleischer in der Rue des Capucines. Er verbrachte die nächsten sechs Jahre mit dieser Tätigkeit und schuftete bei verschiedenen Arbeitgebern in der Stadt. Im Januar 1908, kurz nach dem 18. Geburtstag, meldete er sich freiwillig für die Armee und trat dem 117. Infanterieregiment bei. Massu erreichte den Rang eines Sergeants und wurde zwei Jahre später entlassen. Schließlich fand er eine Anstellung im Kreditbüro des großen Kaufhauses Galeries Lafayette, nur wenige Schritte von Dr. Petiots zukünftigem Heim entfernt. Massu blieb dort, bis die Polizei seine Bewerbung positiv beschied.

      Am 16. Dezember 1911, im Alter von 22 Jahren, begann Massu die Laufbahn in der Brigade Mobile unter Charles Vallet, die gegründet worden war, um die Sicherheit der Pariser auf der Weltausstellung 1900 zu garantieren. Seine ersten Arbeitstage fielen zufälligerweise mit der Verfolgung der berüchtigten Anarchisten zusammen, bekannt als die Bonnot-Bande.

      Jules-Joseph Bonnot und seine Männer sahen den Diebstahl als einen Akt der Befreiung und entwendeten Automobile und Schnellfeuergewehre. Weder Geschäfte noch Privatwohnungen waren vor ihnen sicher. Am 21. Dezember 1911 raubten sie eine Zweigstelle der Bank Société Générale aus und flohen in einem Automobil, was ihnen einen eindeutigen Vorsprung verschaffte, denn die Polizei verfolgte damals Kriminelle entweder auf Fahrrädern oder Pferden. Das Regime der „Automobil-Banditen“, wie die Presse sie nannte, endete während Massus erstem Jahr bei der Polizei. Sie wurden getötet oder gefangen genommen.

      Massu verbrachte die ersten Jahre mit der Verfolgung von Taschendieben, was er als eine „gute Ausbildung“ bezeichnete, denn er lernte dabei, einem Verdächtigen zu folgen, diese Person genau zu observieren und ihn oder sie schließlich auf frischer Tat zu ertappen. Der zukünftige Kommissar hatte sich zu einem geduldigen Detektiv mit einer scharfen Beobachtungsgabe entwickelt, der die Mittel und Wege der Polizeiarbeit bis ins kleinste Detail kannte. Besonders lobte man ihn für seine empathischen Fähigkeiten, durch die er sich in die Lage eines Kriminellen hineinversetzte. Seine Vorgesetzten übertrugen ihm zunehmend größere Verantwortungsbereiche, und er wurde im August 1921 zum Sekretär befördert und schließlich – im Januar 1933 – zum Polizeikommissar. Dabei erntete er den Ruf eines Vorgesetzten, der die Stärken und Schwächen der Männer in seiner Einheit erkannte und dementsprechend einsetzte. Einige superbe Vernehmungsbeamte konnten im ungünstigsten Fall noch nicht mal einen Taschendieb festnehmen, wohingegen einige Beamte, die sich bei Verfolgungsjagden als wahre Bluthunde entpuppten, in einem Verhörraum hoffnungslos verloren waren. Massus Aufgabe bestand darin, die verschiedenen Fälle den dafür geeigneten Ermittlern zu übergeben.

      Seine eigene Spezialität lag im Verhör. Er gewichtete die Bedeutung einer Befragung für ein Ermittlungsverfahren außergewöhnlich hoch. An einem Tatort sichergestellte Beweise und erste Verhöre vor Ort stellten sich später oftmals als durchaus fragwürdig heraus. Sie waren Spielball verschiedenster Interpretationen, und auch die Wissenschaft konnte im günstigsten Fall nicht als unfehlbar bezeichnet werden. Es war gut möglich, dass die Zeugen vor Ort logen, die Beamten in die Irre führten oder fehlerhafte Aussagen zu Protokoll gaben. Bei einem Verhör war es hingegen einfacher, detaillierte Informationen zu erlangen. Diese – wenn sie im Einklang mit verifizierbaren Beweisen außerhalb des Verhörraums standen – eröffneten den sichersten Weg im Rahmen einer Klärung der Schuldfrage, was letztendlich dazu führte, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.

      Der Erfolg bei einem Verhör setzte die Fähigkeit voraus, die eigene Strategie individuell auf den jeweiligen Verdächtigen zuzuschneiden, der auf einem Stuhl mit einem grünen Samtbezug in Massus Büro saß. Ob es sich nun um einen Schlägertypen handelte oder einen ausgebufften Schwindler, war zuerst einmal egal, denn das Wichtigste war eine ruhige, entspannte Ausgangsatmosphäre. Ein Glas Bier oder ein trockener Weißwein konnten sich laut Kommissar oftmals günstiger auf die Vernehmung auswirken, als einem Verdächtigen ins Gesicht zu schreien, ihn zu bedrohen oder im schlimmsten Fall sogar zu schlagen. Massu konnte nicht nur voller Stolz mit den meisten Geständnissen der

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