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Verbrechens mitzunehmen, um dort die sogenannten Tatortfotos zu schießen. Zwar sträubte sich der Tüftler zuerst gegen die Technik der Daktyloskopie, der Abnahme von Fingerabdrücken, da er sie als Gefahr für sein eigenes System ansah, unterstützte die Anwendung der Methode dann aber doch. Bertillons Ansehen war innerhalb kurzer Zeit so rasant gestiegen, dass der britische Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle seinen Protagonisten Sherlock Holmes „seine tiefe Wertschätzung für den französischen Gelehrten“ ausdrücken ließ. Im Roman Der Hund von Baskerville beschreibt Dr. Mortimer, der Gegenspieler des fiktionalen Meisterdetektivs, Holmes und Bertillon als die zwei besten Ermittler Europas.

      Zur Zeit des Falls Petiot leitete Dr. Albert Paul, Paris’ höchster Gerichtsmediziner, das IML. Der 65-jährige Forensiker bzw. Leichenbeschauer, wie man diesen Berufsstand ursprünglich bezeichnete, stammte aus einer Familie von Ärzten und Rechtsanwälten. Nachdem er sein Studium unter Paul Brouardel, einem führenden Experten auf den Gebieten der forensischen Pathologie und der forensischen Entomologie, also Insektenkunde, abgeschlossen hatte, wurde Paul 1918 Professor der forensischen Medizin an der Sorbonne und arbeitete an vielen bedeutenden Fällen, von denen besonders die Morde des Henri Landru in den Jahren 1920/1921 für großes Aufsehen sorgten. Landru führte die Behörden jahrelang an der Nase herum, während er in aller Seelenruhe reiche Frauen tötete, beraubte und dann deren Körper verbrannte.

      Dr. Paul knackte schließlich den Fall, indem er Landrus Technik, sich der Leichen zu entledigen, kopierte, das heißt, er verbrannte menschliche Körperteile in einem Küchenherd. „Ein rechter Fuß“, erkannte Paul, „verbrannte in 50 Minuten, ein halber Schädel mit vorher entnommenem Gehirn in 36 Minuten, ein kompletter Schädel in 70 Minuten. Ein Kopf mit Gehirn, Haaren, Zunge usw. in ungefähr einer Stunde und 40 Minuten.“ Am schwierigsten war die Beseitigung des Rumpfs und des Thorax, was mit hoher Wahrscheinlichkeit erklärte, warum der Mörder in der Rue Le Sueur die Körper zerhackte, bevor er sie in die Flammen warf.

      Dr. Paul war eine Legende auf seinem Fachgebiet und auch ein gern gesehener Gast der besseren Kreise der Pariser Gesellschaft, wo man ihn wegen der vielen Geschichten kannte, die er meist mit einem makabren Sinn für Humor erzählte. Kommissar Massu hatte großen Respekt vor dem Mann, den man „den Doktor der 100.000 Autopsien“ nannte. Die zwei hatten sich bereits vor 32 Jahren zum ersten Mal getroffen, im Frühjahr 1912, als beide noch ganz am Anfang ihrer Karriere standen – Massu bei der Brigade und Paul in der alten Gerichtsmedizin am Quai de l’Archevêché, bevor er nach dem Krieg seine Arbeit am Institut aufnahm. Massu erkannte schnell, dass der Leichenbeschauer ein empfindlicher Exzentriker war, der lange Fragen hasste und „Quasselstrippen“ auf den Tod nicht leiden konnte. Wenn Massu mit dem temperamentvollen Experten arbeitete, behielt er das stets im Hinterkopf.

      Beim Fall Petiot assistierte Paul ein talentiertes Forensikerteam, bestehend aus den beiden Professoren Léon Dérobert vom Naturkundemuseum und René Piédelièvre von der medizinischen Fakultät der Universität von Paris. Sowohl Dérobert als auch Piédelièvre zählten zu den anerkanntesten Kapazitäten bei der Rekonstruktion fossiler Überreste und verfügten somit über ein Fachwissen, welches sich in diesem Fall als überaus wertvoll herausstellte. Paul hegte schon von Anfang an den Verdacht, dass die Arbeit an dem Fall weitaus komplizierter sein würde als bei Landru.

      Die Gerichtsmedizin erhielt den Auftrag, die Opfer zu identifizieren, und zwar aus einer grauenhaften Masse verwester und verstümmelter Überreste, die man aus der Grube, dem Ofen und dem Keller in der Rue Le Sueur geborgen hatte. Dabei mussten sie Arme, Beine, Torsi und Oberschenkel wie bei einem Puzzle zusammenfügen, was der Arbeit an einem Dinosaurierskelett für das Museum ähnelte. Die Wissenschaftler sollten im günstigsten Fall die Anzahl der Opfer ermitteln, das Alter und das Geschlecht sowie die Todesursache und den Todeszeitpunkt. Ihre Berichte zählten zu den wichtigsten Beweismitteln für die Beamten, die nach jedem sich bietenden Strohhalm griffen, um die grundlegenden Fakten zu klären.

      Paul arbeitete wie ein Besessener und durchsuchte einen riesigen Haufen von „Oberschenkelknochen, Schädeln, Schienbeinknochen, Rippen, Fingerknochen, Kniescheiben und Zähnen“, die auf seinem Marmortisch lagen. Er konnte zwei beinahe vollständige Skelette und zwei halbe Torsi rekonstruieren. Bei vielen Fundstücken konnten Knochengruppen bestimmt werden, wie zum Beispiel zehn Schlüsselbeinknochen, neun Brustbeinknochen, sechs Schulterblattknochen und ein komplettes Becken, doch meist standen den Wissenschaftlern nur Fragmente zur Verfügung, zu klein oder deformiert, um identifiziert zu werden. Dr. Paul und seine Kollegen fanden so viele Einzelstücke, dass man laut Arzt damit „drei Mülltonnen“ füllen konnte. Doch nicht nur Knochen lagen in dem grausigen Haufen – auch Kopfhäute mit Haaren. Diese ergaben zusammen ein Gewicht von beinahe fünf Kilogramm.

      „Es ist keine Autopsie“, meinte Paul. „Es ist ein Puzzle.“ Ein Puzzle – oder wie die Ermittler schon bald erkennen sollten – verschiedene Puzzles mit vielen fehlenden Teilchen.

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      ICH BIN EIN KENNER DER MENSCHLICHEN BESTIMMUNG UND ALL IHRER MYSTERIEN, GLAUBEN SIE MIR. NEHMEN SIE IHRE CHANCE WAHR. SIE LIEGT DIREKT VOR IHNEN.

      (Jean Cocteau, An die jungen Schriftsteller, La Gerbe, 5. Dezember 1940)

      Nur einen Steinwurf von Petiots Appartement in der Rue Caumartin entfernt lehrte Jean-Paul Sartre am Lycée Condorcet Philosophie. Die Veranstaltungen fanden während des Semesters an dreieinhalb Wochentagen statt. In der vorlesungsfreien Zeit genoss Sartre die Ruhe in einem der zahlreichen Cafés der Stadt. Im Frühjahr 1944 ließ er sich gerne in dem kaum bekannten Café de Flore im Viertel Saint-Germain-des-Prés blicken, das er schon früh am Morgen aufsuchte. Er setzte sich dort an seinen Tisch im hinteren Teil der zweiten Etage. Der kleine Mann mit schon schütterem Haar und einer Brille nahm in einem roten Stuhl Platz, zog an der Pfeife und raste mit dem Füllfederhalter förmlich über das Papier, um seine Gedanken in kleinen, zierlichen Buchstaben festzuhalten. Wegen des Kriegs gab es nur wenig Tabak, und so unterbrach Sartre zeitweise das Schreiben, um vom Boden Zigarettenkippen aufzusammeln und sich die Pfeife zu stopfen.

      Am anderen Ende des Raums, neben dem Ofen an einem Mahagonitisch mit einer marmornen Steinplatte, saß seine Freundin und Geliebte Simone de Beauvoir. Die beiden hatten sich absichtlich jeweils ihr Territorium an den entgegengesetzten Enden des Café abgesteckt, um sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Zur Mittagszeit machten sie eine kurze Pause zum Essen, das sie in Beauvoirs Eckwohnung im dritten Stock des La Louisiane an der Rue de Seine einnahmen. Es war nun wirklich keine Überraschung, dass die beiden unaufhörlich miteinander kommunizierten.

      „Mir wurde klar“, sagte Beauvoir einmal, „dass ich es, selbst wenn uns Zeit bis zum jüngsten Gericht zur Verfügung stünde, immer noch als zu kurz empfinden würde.“

      Sartre stand am Anfang einer äußerst produktiven Phase, die ihn schließlich auf den Zenit seines intellektuellen Ruhms beförderte. Im Sommer 1943 hatte er sein Monumentalwerk Das Sein und das Nichts veröffentlicht, eine im Original 722 Seiten starke philosophische Abhandlung über Freiheit und Verantwortung, die sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu einer Sensation entwickeln sollte. Anfangs traf das Werk allerdings kaum auf Widerhall. Nur eine einzige Besprechung erschien, und zwar in René-Marill Albérès’ Etudes et Essais universitaires. Sartres Freund Jean Paulhan witzelte gerne darüber, dass man den dicken Schinken gut als Gegengewicht beim Wiegen von Früchten oder Obst einsetzen konnte.

      In jenem Sommer hatte Sartre sein erstes Theaterstück Die Fliegen vollendet, das man im Theater Sarah Bernhardt aufführte, welches während der Besatzungszeit durch die Nazis im Rahmen der Arisierung in Theatre de la Cité umbenannt worden war, um jegliche Referenz an das Judentum auszumerzen. In dem Stück belebt Sartre den Mythos um das Haus von Atreus: Der junge Orest kehrt nach langer Abwesenheit nach Argos zurück, das eine Plage heimgesucht hat. Die Stadt leidet unter der tyrannischen Herrschaft von Ägist, der seinen Vater ermordet und die Mutter als Geliebte genommen hat. Orest nimmt Rache, ermordet den verhassten Besetzer und befreit die Stadt von ihrem Fluch. Das Stück ist eine gelungene Anspielung auf die Besetzung von Paris, wirkte aber durch den historischen Handlungsort Griechenland unverfänglich genug, so dass es die Zensur problemlos passierte.

      Der

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