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Eiserner Wille. Mike Tyson
Читать онлайн.Название Eiserner Wille
Год выпуска 0
isbn 9783854456292
Автор произведения Mike Tyson
Жанр Языкознание
Серия Sport
Издательство Bookwire
Cus lächelte nur. „Ja, aber wenn die Zeit des Piloten um ist, dann gehen wir alle.“
Mein psychologisches Training war schon in vollem Gange, als Cus an meinen boxerischen Fähigkeiten zu arbeiten begann. Er wartete gleich mit einer Innovation in der Boxtechnik auf. Cus hatte einen neuen Boxstil entwickelt, den seine Gegner verächtlich „Peek-a-boo“ nannten, abgeleitet vom „Guck-guck-Spiel“ für Kleinkinder. Dieser Stil basierte auf Cus’ Bewunderung für die Art und Weise, in der Slapsie Maxie Rosenbloom boxte. Maxie bestritt 274 Kämpfe und ging lediglich zweimal k. o., während er 207 Mal gewann. Er erlernte das Boxen nach der alten Schule und wurde anfangs ordentlich versohlt. Doch dann änderte er seine Kampftechnik, indem er seine Hände oben hielt, um sich zu schützen. Er stand in der Mitte des Rings und wich jedem Schlag seines Gegners aus. Er war kein harter Puncher, aber er fightete großartige Boxer in Grund und Boden; er watschte sie einfach zu Tode.
Maxie ließ zwar gute Boxer alt aussehen, war aber ein langweiliger Kämpfer. Cus modifizierte Maxies Stil, um es seinen Kämpfern zu ermöglichen, nach vorne zu gehen und aggressive Konterboxer zu werden. 1959 erklärte er einem Reporter des Magazins Life den Ursprung des Peek-a-boo-Stils. Er entstand aus der Angst, die jeder Boxer zu erkennen gibt. „Um diese Angst zu vermeiden, musst du geschützt sein – nicht nur zeitweise, auch nicht überwiegend, sondern die ganze Zeit. Du kannst nicht riskieren, ohne Deckung dazustehen. Jedesmal, wenn du auf Risiko spielst und verlierst, wirst du verletzt. Und wenn ein Boxer verletzt wird, ist er eingeschüchtert und denkt, er ist müde, ausgelaugt. Dann hält er die Deckung oben. Bei meinem Stil ist die Deckung von Anfang an oben. Du riskierst nichts. Der rechte Arm schützt immer die Leber, der linke den Solarplexus. Die Hände schützen das Kinn. Wenn du mit der Linken in die Auslage gehst, arbeitet der Arm wie ein Kolben. Wenn du dich bewegst, bewegst du dich wie eine Eule. Dann wirst du plötzlich nicht mehr getroffen, und das bedeutet, dass du nicht verletzt wirst. Und wenn du nicht verletzt wirst, dann macht das Boxen Spaß. Und wenn ein Boxer Spaß am Kämpfen hat, kann ihn nichts mehr bremsen.“
Cus wurde von der Presse verspottet und „Cautious Cus“, „vorsichtiger Cus“ genannt. Seine Nichte Betty erzählte, dass die Vorsicht in der ganzen Familie eine große Rolle spielte, ebenso wie man stets auf alle Eventualitäten vorbereitet war. Auch Al Caruso, einer der ersten Boxer, der diesen Stil von Cus erlernte, schrieb ihn dessen vorsichtiger Natur zu. Aber Caruso erkannte auch die aggressive Komponente, die Cus hinzugefügt hatte: „Der Peek-a-boo-Stil ist nicht dafür gemacht, nur jedem Schlag erfolgreich auszuweichen. Du lässt den Kerl ein-, zweimal daneben schlagen und dann greifst du an“, sagte Caruso. Cus wusste, dass es verheerende Auswirkungen auf die Psyche hat, wenn einer ständig sein Ziel verfehlt. Ein riesiger Puncher, der keinen Schlag anbringen kann und dann den Konter abbekommt, wird eingeschüchtert, weil seine größte Stärke plötzlich zur Schwäche wird.
Manche nannten diesen Stil auch „Schildkrötenstil“, obwohl Cus seine Inspiration von Katzen hatte. Cus sagte einmal zu Eugene „Cyclone“ Hart, einem Profiboxer, den er trainierte: „Manchmal bin ich aufgewacht und dachte über Kämpfe zwischen Katzen nach. Ich hatte einmal eine Katze. Ich spielte mit ihr und wollte ihre Pfoten festhalten, aber bis ich sie erwischte, hatte sie schon dreihundert Treffer gelandet.“ Cus verglich alles mit dem Boxen. Er beobachtete zwei Kakerlaken beim Kämpfen und sagte. „Hast du das gesehen? Sie jabt!“ (Ein Jab ist eine kurze Gerade mit der Führhand) Katzen sind sehr agil, sie bewegen sich von einer Seite zur anderen und täuschen an. Sie sind die besten Killermaschinen der Welt. Cus sagte, ich würde mich wie eine Katze bewegen.
Es ist nicht einfach, den Peek-a-boo-Stil anzuwenden. Man muss die ganze Zeit den Kopf bewegen, um den Schlägen auszuweichen. „Beweg deinen Kopf, beweg deinen Kopf“, war Cus’ Mantra. Viele Boxer hatten auch Probleme damit, die Hände oben zu lassen. Der Vater meines Mitbewohners Tom Patti, Anthony, hatte mit Cus bereits in den Vierzigern trainiert. Wenn Anthony ihn wegen eines Kampfes nervte, sagte Cus: „Du hast noch nicht gelernt, deine Hände oben zu lassen. Wenn du es gelernt hast, besorg ich dir einen Kampf.“ Und dann ließ er Anthony vor einem Spiegel trainieren. Er band Anthonys Rechte mit einer Schnur um den Nacken fest, sodass er sie nicht runternehmen konnte.
Du wusstest nie, woher Cus seine Inspirationen bekam – Katzen, Kakerlaken. Als er einmal im Süden war, um einen Kampf für Floyd Patterson zu organisieren, stellte ihm einer der reichen Sponsoren seines Gegners einen erstaunlichen Typen namens Bobby Lamar „Lucky“ McDaniel vor. Dieser Kerl hatte ein einzigartiges Talent. McDaniel griff sich ein Luftgewehr ohne Zieleinrichtung. Dann nahm er eine Unterlegscheibe aus Metall mit einem Loch in der Mitte wie ein Donut. Er warf die Scheibe in die Luft und traf sie auf der Fläche um das Loch herum. Später konnte er die Kugeln sogar durch das Loch schießen. Er umwickelte die Unterlegscheibe mit einem Stück Stoff und schaffte es immer noch, durch das Loch zu schießen. Aber das Erstaunlichste daran war, dass er das jedem innerhalb einer Stunde beibringen konnte, und niemand schoss daneben. Das war irgend so ein Matrix-Scheiß. Es stellte sich heraus, dass McDaniel das Unterbewusstsein seiner Schüler trainierte, ähnlich wie der Zen-Mönch das Bogenschießen lehrte. Cus stellte fest, dass man sogar sehen konnte, wie die Kugel durch das Loch ging, wenn man das Ganze vor einem dunklen Hintergrund machte. Das menschliche Gehirn ist wirklich erstaunlich. Eine Kugel bewegt sich mit rund hundertzwanzig Metern pro Sekunde. Keine menschliche Hand bewegt sich so schnell. Cus fragte sich also: Wenn das Auge die Kugel sehen kann, warum kann es dann nicht einen Boxhieb kommen sehen? Du wirst getroffen, weil du die Koordination zwischen Gehirn und Körper nicht trainiert hast, um dem Hieb auszuweichen. Idealerweise hat dein Gegner schon begonnen, den Schlag auszuführen, dann kann er nicht mehr zurück, er verfehlt dich, und du gehst in den Konter. Cus war damals klar geworden, dass er mit Boxern trainieren konnte, den gegnerischen Schlägen auszuweichen. Dazu ließ er sich etwas einfallen, dass er „Slip Bag“ nannte. Eigentlich war es Cus’ Bruder Nick, ein Chiropraktiker, der auf einer Farm in Long Island lebte, der den Slip Bag konstruierte. Floyd Patterson schrieb dazu in seiner Autobiografie: „Nick nahm eine gewöhnliche Boxbirne aus Leder, aber statt sie aufzublasen, füllte er sie mit rund viereinhalb Kilo Sand. Sie wurde an einer von der Decke herabhängenden Kette befestigt und war ungefähr in der Höhe meines Kopfes, wenn ich in Kampfstellung war. Ich stieß die Boxbirne an, sodass sie nach vorne schwang, und wartete, bis sie wieder auf mich zu kam. Ich versuchte, solange zu warten, bis sie fast mein Gesicht berührte. Das Ziel war, der Birne auszuweichen, wie ein Boxer, der einem gegnerischen Hieb ausweicht.“ Cus begann sofort, mich am Slip Bag zu trainieren. Um von der zurückschwingenden Birne nicht getroffen zu werden, machte man mit dem Oberkörper u-förmige Ausweichbewegungen. Anfangs war es schwierig, aber dann gewöhnte ich mich daran und wurde richtig gut darin.
Neben dem Slip Bag benutzte Cus auch eine Wäscheleine, die er zwischen zwei Wänden spannte. Die Boxer mussten die Leine entlang laufen und dabei von einer Seite auf die andere wechseln, indem sie knapp unter der Leine „durchtauchten“. Eine von Cus’ Lieblingsbewegungen für einen Konterschlag war ein Sprung nach links und dann ein Aufwärtshaken. Cus erklärte Al Caruso, dass er diese Bewegung am besten in einem Bürogebäude in Manhatten üben könne, indem er dort mit Sidesteps in eine Drehtür ginge.
Aber die innovativste Trainingsmethode, die Cus entwickelte, war der Willie Bag. Er erfand dieses Gerät, als José Torres für seinen Kampf gegen Willie Pastrano trainierte. Der Willie bestand aus fünf Matratzen, die auf einen Rahmen gespannt waren. Auf die vorderste Matratze waren die Umrisse eines Mannes gezeichnet, bei dem verschiedene Körperteile nummeriert waren, um verschiedene Schläge zu kennzeichnen. Nummer eins war ein linker Haken zum Unterkiefer, zwei ein rechter Haken zum Unterkiefer, drei ein linker Aufwärtshaken, vier ein rechter Aufwärtshaken, fünf ein linker Haken in die Leber, sechs ein rechter Haken in die Milz, sieben ein Jab zum Kopf und acht ein Jab auf den Solar Plexus. Dann nahm Cus ein Tonband auf, das er mit Nummernfolgen besprach. Der Boxer führte dann den der Nummer entsprechenden Schlag am Willie aus. Zuerst sagte er alle fünf Sekunden eine Zahl. Dann wurden die Ansagen immer schneller. Wieder streckte die Idee dahinter, in einen Zen-Status zu gelangen, indem man durch reine Wiederholung die Schläge schließlich instinktiv ohne nachzudenken