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Aufgabe, weil sie sich nicht auf den bereits erworbenen Errungenschaften ausruhen kann, sondern erst dann an ihr Ziel kommt, wenn sie sich als je neu zu formu­lierende Antwort auf das heute gehörte Wort Gottes artikuliert. Indem wir damit aber nicht bei Null anfangen, sondern auch die Bibel immer schon mit den Augen unserer Konfession lesen, weist Barth im Zeichen des fünften Gebots auf die Ehre, die wir unseren Müttern und Vätern – also der theologischen Tradition – zu erweisen haben, denn ohne sie wä­ren wir nicht, was wir sind. Ohne Schaden kann niemand einfach an der theologischen Tradition vorbeigehen.45 Wolfgang Lienemann weist zu Recht darauf hin, dass kaum ein Theologe so häufig wie Barth «immer wieder aufs Neue die Bekenntnisse der Kirche ausgelegt hat»46. Anstelle eines Bedingungsrahmens für die Theologie sind sie für Barth vor allem der die Theologie sprachfähig machende Orientierungshorizont für eine möglichst genaue Benennung von Entscheidungen, welche die Kirche in |38| ihrer Geschichte bereits zu bestehen hatte. Inwieweit sie allerdings tat­sächlich Autorität beanspruchen können, kann nicht kirchenrechtlich geregelt werden, sondern wird sich in ihrer für heute zu erprobenden Erschliessungskraft beim Verstehen des biblischen Zeugnisses erweisen. Wenn Barth vor dem theologischen Zitat warnt, dann nicht weil er an­nimmt, dass wir heute alles besser sagen können. Es kommt vielmehr darauf an, dass wir es uns von niemand abnehmen lassen können, die Antwort selbst zu sagen. Gerade weil es nicht einfach zur allgemeinen Verfügung steht, was Gott gesagt hat und sagt, sondern jeweils neu ge­hört werden muss, gilt es auch menschlich und d. h. im Horizont all der Unzulänglichkeiten, mit denen das Menschliche nun einmal behaftet ist, jeweils neu zu sagen47, was es als das Wort Gottes zu hören gibt und dies dann gegebenenfalls auch zu bekennen: Wir, hier, jetzt – dies.

      Von den reformierten Aufbrüchen im 16. Jahrhundert ist von ihren Vertretern zu lernen, nun auch selbst wieder zum Anfänger zu werden.48 Alles, was durch etwas anderes als das Wort Gottes bewahrheitet wird, wird schwerlich den Anspruch erheben können, das Wort Gottes zu sein – nicht die Lehrautorität der Kirche steht zur Debatte, sondern die Aner­kennung der Autorität Gottes, die sich eben auch heute in seinem leben­digen Wort Geltung verschafft.49 In dem für die reformierte Tra­dition charakteristischen Schriftprinzip geht es schlicht und folgenreich darum, «sich eine so zufällige, kontingente, menschliche Grösse wie die Bibel allen Ernstes zum Zeugnis von Gottes Offenbarung, diese an sich profane zur Heiligen Schrift werden zu lassen».50 In einer neuen Erfassung des recht verstandenen «Schriftprinzips» sieht Barth ausdrücklich «den einzi­gen ernsthaften Programmpunkt einer reformierten Theologie für die nächste Zeit. Es wird, soweit es sich hier um ein menschliches Tun über­haupt handeln kann, darum gehen, die Kategorie der Offenbarung wieder denken und unter diesem Gesichtspunkt die Bibel Alten und Neuen Tes­taments wieder lesen zu lernen.»51 |39|

      In der Konzentration auf das Wort Gottes steht auch die Freiheit der Theologie zur Debatte, und das schliesst für Barth die Befreiung des in­zwischen von der eigenen Tradition domestizierten Reformiertentums mit ein – er nennt die Orthodoxie, den Pietismus, die Aufklärung und Schleiermacher als die vier Ecksteine seines Gefängnisses52 (was hier nicht weiter ausgeführt werden kann). Die Befreiung zielt auf die anspruchs­volle Freiheit des ersten Gebots. Christliche Freiheit und auch die Freiheit der Kirche gehen unmittelbar mit dem Gebotsgehorsam gegenüber die­sem Gebot zusammen, wobei es bedeutungsvoll bleibt, dass der Gott, der von dem Gebot als der Befreier Israels aus der Gefangenschaft in Ägypten gepriesen wird, der heute lebendige Gott ist, der sich durch den Heiligen Geist in der biblischen Bezeugung immer wieder neu vernehmbar zu machen verheissen hat. Es gilt, all die inzwischen zur Selbstverständlich­keit verkommenen Versuche der Gefangennahme Gottes zu beenden, durch welche sich der Mensch als Regisseur und Dramaturg seiner Reli­giosität zu behaupten versucht, ohne sich dabei von dem circulus vitiosus, in dem er sich dabei faktisch bewegt, irritieren zu lassen. Der sich selbst ausgelieferte Mensch bleibt auch in seinen Befreiungsversuchen ein Ge­fangener seiner selbst – wirkliche Befreiung, eben auch von seinen An­strengungen zur Selbstbefreiung, kann ihm nur von aussen eröffnet wer­den. Hier behält das erste Gebot seine fundamentale Bedeutung.53

      3. Von der Mitte aus offen in alle Richtungen

      Eine dritte Facette von Barths spezifischem reformiertem Profil, die bisher kaum Beachtung gefunden hat, lässt sich in einer bemerkenswerten Poin­tierung der ökumenischen Sendung der reformierten Kirchen entdecken, und zwar in einem durchaus pragmatischen Horizont – Barth spricht hier von einer «strategischen» Tatsache54. Im Rahmen der Gründungsvollver­sammlung |40| des Ökumenischen Weltrates der Kirchen 1948 in Amsterdam gab es ein Treffen, in dem sich die reformierten Kirchen unter sich trafen, um sich über ihre Wahrnehmungen und Hoffnungen auszutauschen. In dieser Versammlung hält Barth eine relativ kurze Ansprache, in welcher er seine Optionen für das Verhältnis der Reformierten zum Weltrat der Kirchen zur Diskussion stellt. Nachdem Barth u. a. auf das besondere öku­menische Potential des calvinischen Denkens hingewiesen hat, ver­sucht er den versammelten Reformierten die ökumenische Gesamtlage des Weltrates vor Augen zu rücken. Er tut das in der Absicht, die Auf­merksamkeit einmal von den gewiss sehr unterschiedlichen Motivations­lagen, mit denen die Kirchen aufgrund ihrer jeweiligen lokalen Erfahrun­gen nach Amsterdam gereist sind, auf die Gesamtsituation der zer­split­­terten «Kirchen» – Barth notiert den Begriff in Anführungszeichen – zu lenken, um dann den reformierten Kirchen eine Rolle ans Herz zu legen, welche nicht an Partikularinteressen, sondern an einer möglichst realisti­schen Wahrnehmung der Gesamtlage orientiert ist.

      «Wenn ich die ganze Fülle der hier vertretenen ‹Kirchen› überblicke, dann sehe ich einen rechten und einen linken Flügel: am äussersten rechten Flügel unsere Freunde aus den orthodoxen Kirchen, für uns recht schwer zu verstehen, als ob sie in einem gewissen Nebel zu ver­schwinden drohten. Links von ihnen, mehr zur Mitte hin, die Anglika­ner mit einer Fülle von verschiedenen Möglichkeiten, nach ihnen die Altkatholiken und dann als unsere nächsten Nachbarn zur Rechten die Lutheraner. Und wir sehen links von uns in grosser Mannigfaltigkeit: die Congregationalisten, die Methodisten, Baptisten, die Disciples of Christ. Jenseits von ihnen beginnt für uns auch auf dieser Seite die Ne­belregion, wo die Mennoniten, die Quäker, die Heilsarmee zu Hause sind, die mit Taufe und Abendmahl nichts anzufangen wissen und bei denen es dunkel erscheint, ob sie noch Kirchen sind oder nicht, ob sie es auch nur sein wollen. Dieses Ganze ist der ‹Weltrat der Kirchen›: diese lange Front von rechts nach links mit all ihren Verschiedenhei­ten, heimlichen und offenen Widersprüchen. Das Besondere unseres reformierten Ortes ist dies, dass wir uns ziemlich in der Mitte befin­den: |41| in nächster Nachbarschaft rechts mit den Lutheranern, links mit den Congregationalisten.»55

      Man mag die Schematisierung und die impliziten Bestimmungen der dargestellten Szenerie beklagen. Dennoch wird sich schwerlich bestreiten lassen, dass Barth hier im Blick auf die unterschiedlichen Ekklesiologien, um die es ihm geht, etwas benennt, was durchaus eine Evidenz hat, die sich ohne weiteres weiter untermauern liesse. Während auf der rechten Seite der Ton auf der geschichtlichen Kontinuität liegt, steht auf der lin­ken Seite die Betonung der durch Wort und Geist bewegten Freiheit im Vordergrund. Wenn Barth nun die Reformierten als «katholische Protes­tanten» und als «protestantische Katholiken» bezeichnet, dann sieht er bei den Reformierten sowohl Elemente, die den rechten Flügel charakterisie­ren, als auch solche, die dem linken Spektrum näherstehen. Nun liesse sich schnell einwenden, dass immer da, wo jemand für sich die Mitte beansprucht, Skepsis angebracht ist und sehr genau hinzusehen ist. Doch Barth geht es weniger um die Beanspruchung der Mitte als vielmehr um die Warnung, nicht nur in die eine Richtung zu blicken, und das wäre eben die rechte Richtung, von der sich die Reformierten von Anfang an in besonderer Weise beeindrucken liessen, während sie zugleich der ande­ren Seite gegenüber gern die kalte Schulter zeigten – um nur die harmlo­seste Variante zu nennen. Indem Barth auf beiden Seiten bestimmte Wahrheitsmomente anerkennt, kommt den Reformierten die Aufgabe zu, sich auch tatsächlich in beide Richtungen zu öffnen und sich eben nicht nur von der manifesten Kirchlichkeit auf der Rechten beeindrucken zu lassen.

      Damit wird ein Aspekt angesprochen, der im Blick auf den Protestan­tismus inzwischen insgesamt eher an Problematik zugenommen als ab­genommen hat. Wenn man etwa die Amtsdiskussion betrachtet, die weite Teile der Ökumene in Atem hält, zeigen die protestantischen Kirchen eine signifikant grössere Beeindruckbarkeit von Seiten der hochkirchlichen Traditionen, als dass sie sich dafür einsetzen,

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