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Artikel Noordmans᾿, in denen diese Wendung deutlich arti­ku­­liert |55| ist. Noordmans problematisiert darin das ethische Persönlich­keits­­­denken und sagt, dass wir nur dann, wenn wir im Glauben die Sichtweise Gottes mitvollziehen – exzentrisch –, zu sehen bekommen, wer wir als menschliche Personen sind.17 Das Leben zwischen Geburt und Tod lässt sich nicht von innen heraus verstehen.

      Noordmans war ein visionärer Geist, der vorhersah, dass das 20. Jahr­hundert ein Jahrhundert mit grundsätzlichen Veränderungen auf vielen Gebieten der Gesellschaft werden würde – nicht nur im Bereich von Reli­gion, Kunst und Organisation, sondern auch auf dem Gebiet der Wis­senschaft und ihrer Anwendungen. Er hatte ein Auge für die destruktiven Seiten der neuen Technologien, wenn diese im Kriegsbetrieb angewendet und so als Instrument gewalttätigen Machtswillens missbraucht werden. Man muss Noordmans᾿ Theologie, wie auch die von Karl Barth, als eine Reak­tion auf eine Periode der Krise verstehen. Wie Barth sah Noord­mans sich dazu gedrängt, eine Theologie zu entwickeln, die einer Theo­­­­lo­gie widerstand, die mit dem Zeitgeist antidemokratischen Denkens und nationalistischer Ideologie ging. In «Neuschöpfung», seinem dogma­ti­schen Hauptwerk aus den 1930er Jahren,18 aber ebenso in Artikeln machte er seine Sichtweise deutlich. Und wie bei Barth spielt auch bei ihm die Eschatologie eine Schlüsselrolle.19 Noordmans᾿ Theologie ist zukunfts­orientiert.

      Die eschatologische Ausrichtung ist nicht im Sinne einer Flucht aus der Gegenwart zu verstehen, vielmehr geht es darum, die menschlichen Möglichkeiten aufzudecken, die sich gerade in Krisenzeiten offenbaren. Glaube und Theologie bekommen in Noordmans᾿ Werk eine grosse Ver­antwortung, wenn es um die Reflexion von Ethik und Wissenschaft geht. |56| Ein Barthianer ist Noordmans nicht geworden, dafür war sein Denken im Zeitpunkt, wo er Barth kennenlernte, bereits zu sehr ausgereift. Auch war das Prinzip der Ethischen Theologie, dass man jeden Tag eine be­stimmte Empfänglichkeit für die göttliche Wahrheit erleben kann, für ihn unaufgebbar. Es gibt in Noordmans᾿ Denken eine Verbindung zwischen Wort und Person, die in seinen Artikeln nach 1935 zu immer kritischeren Fragen an Barths Theologie des Wortes führte.20 Das Wort Gottes ist vom menschlichen Leben und menschlicher Erfahrung zu unterscheiden, darin stimmt Noordmans mit Barth überein, aber dieses Wort wird wirk­sam in der Existenz des Christen. Der Fokus liegt bei Noordmans auf dem pneuma­to­lo­gischen Ansatz und damit der Wirkung des Wortes. Trotz aller Verwandtschaft muss gesagt werden, dass Noordmans aufgrund seines reformiert-pneumatologischen Anliegens lebenslang sowohl der Dialektischen Theologie als auch dem Neocalvinismus von Abraham Kuyper gegenüber kritisch blieb.

      4. Noordmans’ reformiertes Profil

      Was fällt auf, wenn man Noordmans anhand der fünf Punkte der reformierten Geisteshaltung von Gerrish in den Blick nimmt? Was fällt als das unter­scheidend Reformierte auf?

      4.1 Ehrfurcht vor der Vergangenheit: hörendes Denken

      Achtung vor der Vergangenheit ist für Noordmans’ Denken von zentraler Bedeutung. Man kann bei ihm von einem hörenden Denken sprechen. Dies hat für ihn mit «Autorität» zu tun, aber nicht mit einer Autorität im Sinne von Zwang. Vielmehr geht es darum, eine Haltung des Zuhörens einzunehmen und so intellektuelle Bescheidenheit zu zeigen. Ich möchte diesen Punkt anhand eines Artikels aus dem Jahre 1921 näher erläutern, denn dieses Jahr wird meistens als das angesehen, in dem Noordmans eine Wendung von einer ethisch-theolo­gischen hin zu einer stärker offen­­­ba­rungstheologischen Position durchlaufen hat. Aus diesem Jahr stam­­­­men einige Aufsätze, die tatsächlich seinen theologischen An­satz der fol­gen­den Jahre ankündigen. Einer dieser Aufsätze trägt den Titel «Glau­ben auf Autorität hin». Dieser Aufsatz ist ein Plädoyer für ein Autoritäts­element |57| in der Erkenntnislehre und kritisiert den Hang zu in­tellektueller Autonomie sowohl in der Theologie als auch in der Kultur. «Glauben auf Autorität hin» bedeutet, aus einem Hören heraus zu glau­ben, durch welches ein Mensch in seiner ganzen Existenz betroffen wird. Hören gelingt so, dass man seine Aufmerksamkeit zu den Stimmen der Heiligen Schrift und der Kirchengeschichte ziehen lässt, aber auch zu den Stimmen derer, die noch kein Gehör in dieser Welt gefunden haben. Es geschieht etwas, wenn sich das Denken in den Dienst dieses Hörens be­gibt; das Denken und damit die Geisteshaltung werden bescheiden. Am hörenden Denken sind dabei zwei Seiten zu unterscheiden, eine anthro­pologische und eine theologische. Das Anthropologische zielt auf etwas, das nach Noordmans für das Menschsein wesentlich ist. Es ist die Ehr­furcht vor dem Geheimnis der Stimme, für das, was Noordmans als «das zum Klang geworden Innerliche des Menschen» beschreibt. Und er schreibt weiter: «Verkennung des Wortes, in jeder Form, schädigt die Heiligung des innerlichen Menschen» (VW 2, 142). Die theologische Denkhaltung, die dieses Hören achtet, basiert nicht auf einem wissen­schaftlichen Drang, selbst etwas zu finden, oder auf unbeugsamen Prin­zipien, sondern sie richtet sich nach der «Grammatik des Glaubens» (dem «Wort­zu­sam­men­hang» der Evangeliumsverkündigung, wie Noordmans in «Neu­schöp­­­fung» schreibt, VW 2, 218). Diese Denkhaltung sagt dann (auf der Linie einer kantianischen intellektuellen Demut), dass unser Er­kennen begrenzt ist und fragmentarisch bleibt, weil es von der Erkennt­nis, die bei Gott ist, umgriffen ist. Das hat man Noordmans zufolge im niederländischen Pro­testantismus seiner Zeit verlernt. Man wollte zwar noch Autorität für die Moral anerkennen, im Denken aber autonom sein.

      4.2 Kritik: die Fülle von Gottes Heils nicht einschränken

      Der zweite Punkt der reformierten Geisteshaltung führt uns zum Ent­scheidenden an Noordmans᾿ Beitrag zur Theologie des 20. Jahrhunderts. Noordmans hat sich nicht nur zur sogenannten Ethischen Theologie, der Variante der reformierten Theologie, die er gelernt hatte, kritisch ver­halten, son­dern auch zu der grösseren Linie der Reformations­geschichte. Ich nenne einige auffallende Punkte und werde danach näher auf seinen wichtigs­ten Beitrag zur Theologie, den sogenannten kritischen Schöp­fungs­begriff eingehen.

      a. Noordmans und Calvin/Calvinismus

      Calvin ist in Noordmans᾿ Gesamtwerk als ständiger Referenzpunkt seiner Entwicklung überall präsent. Noordmans nennt ihn selbst «meine Auto­rität» (VW 1, 201). Man kann Noordmans᾿ Hauptwerk «Neuschöpfung» als eine Übertragung von Calvins Institutio unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts sehen. Das heisst: Noordmans liest Calvin unter dem Gesichtspunkt einer bedrohten Humanität. Besonders die Weise, in der Calvin über den Glauben redet, ist für Noordmans grundlegend. Glauben heisst, Christus anzugehören, unio mystica, die durch Gottes Geist bewirkt wird. Das sagt etwas über Identität aus: Man lebt als Mensch von dem, was man selbst nicht besitzt, und man leiht seine Identität von dem, was einen noch erwartet.21 Die Anthropologie geht hier in der Pneumatologie auf.

      Noordmans᾿ kritische Geisteshaltung zeigt sich in seiner Unterschei­dung zwischen Calvin und dem Calvinismus. Noordmans sagt in seinen Texten oft, dass er auf der Suche nach dem «wahren» Calvin sei. Seines Erachtens ist dieser in den dogmatischen Systemen der streng calvinisti­schen Varianten der konfessionellen Theologie abhanden gekommen. Oft redet Noordmans über die Kargheit und Härte des Calvinismus, wodurch das Heil Gottes unzulänglich beschrieben werde. Ein gutes Beispiel dafür ist seine Meditation «Sünder und Bettler» (siehe Luk 16,19–31; VW 8, 15–25), worin er deutlich macht, dass Heil nicht nur mit der Sündhaftigkeit der Menschen zu tun hat, sondern auch mit der leiblichen und geistlichen Not, in der sich Menschen befinden. Theologen können mit ihrem Dis­kurs auch eine Mauer gegen den Reichtum von Gottes Heil in dieser Welt aufbauen. Es gibt, schreibt Noordmans oft, mehr im Evangelium, als die Kirche sich daraus angeeignet hat (z. B. VW 8, 25).

      b. Noordmans und Barth

      Wie bereits erwähnt, hat der Einfluss von Barth auf Noordmans bei die­sem keine direkte Wendung verursacht, sondern einen Prozess verschärft, der bereits im Gange war. Dabei artikulierte er das Anderssein Gottes schärfer als jemals vorher und unterstrich, dass das Menschsein in seiner wahren Bedeutung nur von der Neuprädikation durch Gott her zu erken­nen ist. Wo liegt bei aller Verwandtschaft die Differenz zu Barth? Es gibt zwischen 1925 und 1940 mehrere Beiträge von Noordmans zu Barths |59| Theologie, die mehr Licht darauf werfen. Ich kann nur einen einzigen Hauptpunkt

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