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Letzte Tage. Matthias Eckoldt
Читать онлайн.Название Letzte Tage
Год выпуска 0
isbn 9783943941487
Автор произведения Matthias Eckoldt
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Sind doch nur sechs Runden«, sagte Bornemeyer. »Das ist ein halber richtiger Kampf. Also sind es auch nicht zwei, sondern vier Wochen Pause dazwischen. Und Rico will doch bald einen richtigen Kampf, oder?«
»Wenn’s nur gut geht.« Toni sollte mit seinen Befürchtungen Recht behalten. An Ricos Laktatwerten sah er, wie sehr die vielen Einsätze an seiner Substanz zehrten. Er verordnete Ricos gereizten Muskeln Massagen und Sauna, lief mit ihm durch den Wald bei zwanzig Prozent unter Trainingspuls und ließ ihn alles essen, was er mochte. Ein paar Mal gingen sie sogar zu McDonald’s. Fünf Tage vor dem nächsten Kampf kam Rico zum ersten Mal in den Grenzbereich seiner Gewichtsklasse. Die Waage zeigte fast 74 Kilogramm. Da mussten anderthalb Kilo runter. Zwei Trainingseinheiten, vernünftiges Essen nach Tonis Ernährungsplan und reichlich Sauna erledigten das rasch. Drei weitere Tage lang hundertfünfzig Gramm Eiweiß, hundert Gramm Fett und sechshundert Gramm Kohlehydrate, und schon hatte Rico beim offiziellen Wiegen wieder sein Idealgewicht von 72,1. Im Gesicht verlor Rico nicht ein Gramm. Er hatte immer noch sein rundes Jungengesicht mit Sommersprossen und einer von nur wenigen Schlägen gezeichneten Stupsnase. Bevor er als Mann durchging, mussten seine Wangen schmaler werden.
Sein Gegner brachte noch etwas mehr auf die Waage, wovon einige Gramm an den Hüften hingen. Er kam aus Russland und nannte sich Igor, der sibirische Tiger. Toni hatte nur einen einzigen Mitschnitt auftreiben können, in dem man Igor kämpfen sah. Allerdings glich das Ganze eher einer Kneipenprügelei als einem Boxkampf. Die Innenhände flogen nur so durch den Ring. Dazu gab’s Kopfstöße, Tief- und Nackenschläge. Ein Lehrvideo verwarnungswürdiger Unsportlichkeiten beim Boxen. Der Ringrichter aber ging erst dazwischen, als Igor das Knie zu Hilfe nahm, um seinem Gegner das Nasenbein zu zertrümmern. Bei einer ähnlichen Aktion musste ihm ein Rivale mal alle Schneidezähne rausgeschlagen haben. Toni wurde etwas mulmig, als er die Bilder sah. Rico hatte bislang zwar gegen unterklassige, aber faire Gegner geboxt. Aggressivität machte ihm nichts aus. Aber Brutalität?
Sicher brauchte Rico noch Erfahrung, aber nicht diese. Er musste eher einen Gegner vor die Fäuste bekommen, der ihn ein paar Mal richtig unter Strom setzte. Mit legalen Mitteln. Wenn der Junge die Nerven behielt, wenn er clinchte, das Tempo verschleppte, sich in die Pause rettete, schließlich langsam in den Kampf zurückkam und zum Schluss noch gewann, dann konnte Bornemeyer etwas Größeres für ihn planen. Einen Ausscheidungskampf zur Europameisterschaft beispielsweise. Das bedeutete letztlich nicht viel, klang aber gut genug, um einen Boxabend zu veranstalten. Der Gewinner eines solchen Kampfes hatte danach ebenso viel oder ebenso wenig Aussichten auf einen Titelfight wie der Verlierer. Ob er ihn bekam oder nicht, hing weniger von seiner Leistung als von der des Managers ab. Aber das Fernsehen, das Bornemeyer an den Ring geholt hatte, brauchte immer einen Anlass für seine Übertragungen. Ausscheidungskampf zur Europameisterschaft würde genügen, damit Rico den Hauptkampf eines Boxabends bekam.
Es passierte in der zweiten Runde. Der Russe schlug Rico eine klatschende Innenhand direkt aufs Ohr. Rico lief wie durch Luftlöcher, während sein Gegner auf ihn zustürzte. Der zweiten Innenhand entging Rico eher durch Zufall, als er nach hinten taumelte. Der Ringrichter unterbrach den Kampf, gab dem russischen Tiger jedoch keine Verwarnung. Er ermahnte ihn lediglich, keine Innenhände zu schlagen. Igor nickte.
»Box!« Kaum war der Ringrichter einen Schritt nach hinten getreten, ging Igor schon wieder auf Rico los. Toni griff nach dem Handtuch. Er würde es sofort werfen, wenn sich Rico noch so ein Ding fing. Der makellose Kampfrekord wäre dann dahin, und auch Ricos Ruf als Mister Knockout. Das ließ sich alles wieder aufbauen, aber ein zerklopptes Innenohr nicht.
Zum Glück gingen die Schläge des Russen jetzt fast alle auf die Deckung. Ein paar Fäuste setzte er ganz ins Leere. Während seiner unkoordinierten Aktionen war Igor so weit offen, dass Rico sich in aller Ruhe hätte aussuchen können, wie er ihm das Licht ausknipste: Kinn, Mundwinkel, Schläfe. Eine einzige rechte Gerade hätte genügt. Doch Rico zog sich hinter seine Handschuhe zurück, anstatt zuzuschlagen. Endlich der Gong.
»So ein Blödkopp, nicht wahr, mein Junge?«, flüsterte Toni seinem Boxer ins linke Ohr.
»Was?«
Ricos Trommelfell war geplatzt.
»Ein Blödkopp, dieser Russe!«, schrie ihm Toni nun ins Gesicht. »Aber den machst du jetzt fertig. Hau ihm seine letzten Zähne raus, ja!«
Rico nickte, aber wie er so dasaß, mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Blick, wirkte er eher, als würde er auf seine Hinrichtung warten. Toni drückte ein paar Triggerpunkte, um ein wenig Spannung aus den Schultermuskeln zu nehmen, dann rief er: »Spring hoch. Los, ganz schnell! Hoch!«
Rico schaute seinen Trainer fragend an.
»Los!«
Rico schnellte vom Schemel hoch.
»Was soll das, Trainer?«
»Es ist alles in Ordnung. Du machst das, mein Junge!« Toni schickte ihn mit einem Schulterklopfen in die nächste Runde. Das Innenohr hatte nichts abbekommen.
Rico wurde langsam beweglicher. Pendelte in den Hüften, trippelte durch den Ring und ließ ein paar Mal seine Führhand auf die Nase des Russen los. Eine gute Runde.
»Jetzt bist du wieder da, mein Junge! Sehr schön! Halt ihn einfach auf Distanz! Schön mit der Führhand arbeiten.« Toni gab Rico zu trinken. »Lass dich nicht auf einen Infight ein! Hast du verstanden? Immer eins, zwo und dann die Rechte durchschieben.«
In der nächsten Runde zerlegte Rico den Russen nur mit seiner Linken. Igor wackelte ein paar Mal, aber Rico schoss einfach seine Rechte nicht ab. Wollte er sich für die zweite Runde rächen und nun seinen Gegner leiden lassen? Dessen rechtes Auge war bereits völlig zugeschwollen, so dass er Ricos ansatzlos geschlagene Hände erst bemerkte, wenn sie ins Ziel kamen.
»Mach Schluss, Rico!«, rief Toni in den Ring, aber auch die vierte Runde ging per Gongschlag zu Ende.
»Was soll denn das? Der Russe ist erledigt. Hau ihn um. Bei seiner Deckung ist jetzt Tag der offenen Tür! Keine Spielereien mehr!«
Rico demolierte noch die Nase sowie das andere Auge des kreuzlahmen Tigers, bevor er die Rechte auspackte. Igor fiel ihm in die Arme und klammerte sich fest.
»Weg da! Geh raus!«, schrie Toni, doch da war es schon zu spät.
Der Russe knallte seinen Kopf gegen Ricos Augenbraue. Nachdem der Ringrichter den Kampf bereits unterbrochen hatte, schlug er gleich noch einmal auf die verletzte Stelle. Der Ringarzt brauchte nicht lange, um den blutenden Riss zu untersuchen. Hier half keine Vaseline und kein Adrenalin mehr. Der Kampf war zu Ende. Igor bekam noch einen Punktabzug, dann wurden die Stimmzettel der Punktrichter eingesammelt und ausgezählt.
Toni war froh. Das Publikum nicht. Der Moderator, der das Urteil verkündete, konnte kaum die Pfiffe und Buhrufe übertönen. Als der Ringrichter Ricos Arm hochstreckte, begannen die ersten Sprechchöre: »Schiebung, Schiebung!« Beim Gang in die Katakomben riefen manche sogar: »Weichei! Weichei!«
Nach drei Tagen Krankenhaus stand Rico wieder an der Boxbirne. Er war wild entschlossen. Kein Schwänzen mehr, kein Abkürzen der Laufstrecken, keine Extra-Pausen im Training. Vorbei die Tage der Faulheit. Da erübrigte sich doch jede Fehleranalyse, dachte Toni und arbeitete einen neuen Trainingsplan für Rico aus.
Inzwischen war Rico gereift. Gut für eine große Aufgabe. Aber nicht für die, die Bornemeyer ihm zumuten wollte. Gegen Alex würde er keine Chance haben. Toni nahm den Aufhebungsvertrag aus der Schublade und holte seine Lederjacke aus dem Schrank. Seit dem Ende der DDR hatte er sie nicht mehr angezogen. Das Leder war abgewetzt und brüchig. »Thälmannjacke« hatten sie früher dazu gesagt, was nicht als Verehrung des Arbeiterführers der dreißiger Jahre zu verstehen war, sondern eher als Provokation der Funktionäre, die mit Schlips, Anzug und Parteiabzeichen durch die Gegend stolzierten und den Sozialismus priesen, ohne je mit anzupacken. Alte Zeiten jedenfalls, denen er gleich wiederbegegnen würde.
»Muss noch was erledigen«, rief Toni