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kriegst deinen Kampf um die Europameisterschaft. Und nun zu den schlechten: Weißt du, gegen wen du boxt? Gegen Alex. In gerade einmal drei Wochen. Ich weiß, mein Junge, es klingt, als wollten sie dich abschlachten. Sittenwidrig ist das, habe ich zu Bornemeyer gesagt, und er hat mir freigestellt zu gehen.

      Unfair ist das, Trainer, aber sittenwidrig?

      Es ist sittenwidrig, und ich sag dir auch warum. Weil er meine beiden Söhne aufeinanderhetzt und ich euch nicht mehr beistehen kann!

      Damit durfte er Rico nicht belasten. Schließlich war er sein Trainer und nicht ein Kumpel, der sich bei ihm ausheulte. Irina wollte er auch nicht ins Vertrauen ziehen. Er wusste, was sie dazu sagen würde. Vom Aufhebungsvertrag würde sie ihm allein schon abraten, weil sie das Geld liebgewonnen hatte, von dem Toni in den letzten Jahren reichlich nach Hause brachte. Noch vor dem Geld kam für sie ihr Rico. Also war klar, dass ihm Irina raten würde, ihn weiter zu trainieren. Toni konnte es sich sparen, mit ihr darüber zu reden. Sie war richtig aufgeblüht, seit Rico bei ihnen wohnte.

      Rico war vierzehn, als er bei ihnen einzog und hatte gerade seinen ersten Rasierapparat bekommen. Außerdem brachte er noch einen Koffer voll Wäsche, Musik-Kassetten und eine Rolle Plakate mit, die er noch am ersten Abend in seinem Zimmer aufhängte. Grimmige Schwarze, die »Fuck you« oder »Motherfucker« auf ihren Basecaps stehen hatten und aggressive Verrenkungen machten. Die Finger hielten sie unnatürlich gespreizt.

      »Hat mir meine Tante aus dem Westen geschickt!«, erklärte Rico seinen Wahleltern. »Das sind Erkennungszeichen für ihre Gangs. In den Ghettos wissen die sofort, wer wohin gehört.«

      Irina nahm Tonis Hand und lächelte.

      »Du magst Schwarze, oder?«, fragte Toni.

      »Klar. Ich glaube, ich bin eigentlich auch ein Schwarzer. Bei mir ist da nur was mit der Hautfarbe durcheinandergekommen. Ich wette, wenn ich in so ein Ghetto gehen würde, wo sich kein Weißer hintraut, mir würde nichts passieren!«

      »Solltest du besser nicht ausprobieren!«, sagte Irina, während sie Ricos Wäsche in den Schrank legte. Jedes T-Shirt und jede Unterhose strich sie noch einmal glatt.

      »Außerdem sind die besten Boxer der Welt schwarz. Habe ich Recht, Trainer?«

      »Klar! Wenn man mal von dir und Alex absieht!«

      Rico freute sich, endlich ein Zimmer für sich allein zu haben. Als er noch bei seiner Mutter lebte, erzählte er beim ersten gemeinsamen Abendbrot, musste er sich ein Zimmer mit seinem Stiefbruder teilen. Der war sechs Jahre jünger und wollte immer, dass Rico mit ihm puzzelte. Er hasste Puzzles. Ins Wohnzimmer durfte er nicht. Das hatte sein Stiefvater verboten, und der konnte jederzeit überprüfen, ob sich Rico an das Verbot hielt, denn er saß den ganzen Tag auf der Couch. Von ihm hatte er auch den ersten Boxunterricht erhalten.

      »Boxunterricht?«, fragte Toni.

      »Ja, er hat zugeschlagen, und ich bin stehen geblieben. Wie Sie immer sagen: Ein guter Boxer muss Schläge nehmen können.«

      Das war keine von Tonis Durchhalteparolen, die er in der Ringpause ausgab, wenn einer seiner Boxer kräftig einstecken musste. Nein. Für ihn galt: Erst die Nehmerfähigkeiten machten jemanden mit gutem Zug in der Faust auch zum Boxer. Draufschlagen konnte jeder mehr oder minder gut. So wie Ricos Stiefvater. Aber wer blieb stehen, wenn eine harte Gerade auf der Nase oder dem Jochbein einschlug? Stehenbleiben bedeutete nicht nur nicht umfallen, sondern vor allem nicht wegrennen. Ab durch die Seile und fort. Wozu hatte der Mensch schließlich zwei Beine? Die andere Reaktion, die Toni bei einem Boxer nicht sehen wollte, war das unkontrollierte Zurückschlagen, die Rache. Bestenfalls dazu gut, sich noch ein Ding einzufangen. Wenn man den Angriff nicht vorbereitete, sondern einfach seine Schlaghand in Richtung Gegner schleuderte, war die Bahn für einen Kopfhaken frei und man lag schneller am Boden, als man gucken konnte.

      Der Boxer, den Toni haben wollte, musste jeden Schlag gelassen hinnehmen wie ein Schachspieler den Zug des Gegners. Den Schmerz ertragen und auf die eigene Chance lauern. Den Konter setzen. Eins, zwei. Kombination. Wegducken.

      Die Zeitungsfritzen schrieben gern, dass die Boxer während des Kampfes so voll Adrenalin waren, dass sie keine Schmerzen spürten. Quatsch. Absoluter Unsinn! Toni hätte gern mal einem dieser Schreiberlinge demonstriert, wie weh ein Schlag auf die Lippe oder die Nase auch im Ring tat. Dass die Boxer nach solchen Schlägen nicht zu weinen begannen, lag nicht am Adrenalin, sondern daran, dass sie Hochleistungssportler waren. Die mussten bei jedem Training durch den Schmerz hindurch, täglich. Nach zweihundert Liegestützen musst du aufstehen und die wild zitternden Arme hochhalten, weil dein Sparringspartner schon ganz wild darauf ist, dir das Gesicht zu zerdreschen. Beim Seilspringen musst du immer noch einmal abspringen, obwohl du längst nicht mehr weißt, wie du die Last des Aufsprungs abfangen sollst. Dann kommt die Endrunde mit einem Bein, aber du kannst nicht einmal mehr auf zweien stehen. Oder die Hantel, die dir nach vierzig Stößen auf die Brust fällt, und keiner hilft dir. Und der Medizinball, den dir dein Trainer immer wieder in den Bauch wirft. Deine Muskeln glühen, du denkst, beim nächsten Wurf fliegt dein Nabel weg und der Trainer schreit: »Genieß es!«

      Schmerzen, jeden verfluchten Tag Schmerzen. Was glaubten die denn? Nicht Adrenalin, sondern Training hieß das Zauberwort. Mit dem Schmerz leben. Der Rest lief im Kopf ab. Ein Boxer fing sich nur so lange die bösen Schläge, bis er verstand, dass es überhaupt keine bösen Schläge gab. Niemand will dir im Ring etwas Böses. Deshalb weiß ein guter Boxer weder einen Grund fortzulaufen noch sich zu rächen, sondern nur einen Grund, Deckung und Angriff zu trainieren. Natürlich gab es auch üble Dinger, die keine Schmerzen machten. Aber auch das lag nicht am Adrenalin, sondern daran, dass dir ein solcher Schlag nicht nur den Kiefer brach, sondern zugleich auch die Nervenbahnen durchtrennte.

      »Und ein K. o.?«, fragte Irina. »Da kann man doch nicht stehen bleiben.«

      »Glaube nicht, aber ich bin noch nie zu Boden gegangen!« Rico lächelte seinem Trainer verschwörerisch zu.

      Der lächelte zurück: »Ein K. o. ist nicht so schlimm, wie er aussieht. In der letzten hundertstel Sekunde, bevor das Ding bei dir einschlägt, denkst du noch: Wo kommt diese Faust denn her? Dann fliegt dein Kopf in den Nacken. Und alles wird ganz leicht. Ganz entspannt. Eigentlich so wie ein langer Seufzer. Schlimm wird’s erst, wenn das Gesicht vom Ringrichter plötzlich da ist. Du hörst, wie er zählt, und dann wird dir klar, dass du vor ihm am Boden liegst. Und nicht nur vor ihm, sondern auch vor deinem Trainer und deinem Gegner und den Zuschauern. Du liegst auf dem Rücken wie ein Baby. Du denkst nur noch eins: Aufstehen, aufstehen, aufstehen! Aber die Knie knicken dir weg. Dann winkt der Ringrichter ab, und du willst nur noch verschwinden. Ganz allein in deiner Kabine sein. Dich in deinem Bett vergraben. Doch man lässt dich nicht. Trainer, Ärzte, Freunde. Alle kümmern sich um dich.«

      Rico säbelte einen Streifen von seinem zweiten Steak ab und sagte: »Gut, dass Sie mir das mal erzählen, Trainer. Denn so was wird mir nie passieren!«

      »Dann klopf mal lieber schnell auf Holz!«

      Rico nahm gleich den Glastisch und kommentierte: »Muss kein Holz sein!«

      Irina lächelte wieder. So fröhlich hatte Toni sie seit ihrer Hochzeit nur selten gesehen, und die war zwanzig Jahre her. Vom Alter her könnte Rico ihr gemeinsamer Sohn sein. Ob aus dem auch ein Boxer geworden wäre? Vielleicht hätte er aus Trotz etwas ganz anderes gemacht. Die Boxstiefel gegen Ballettschuhe getauscht. Ein sanfter Tänzer, dessen einzige Gemeinsamkeit mit Rico vielleicht darin bestand, dass er auch mit vierzehn ausgezogen wäre. Zu seinem Trainer. Weil dann sein täglicher Anfahrtsweg zur Tanzschule nicht mehr so lang war. Toni hätte Rot gesehen. Ricos Mutter dagegen schien geradezu erleichtert, als sie hörte, dass ihr Sohn wegging: »Da haben Sie sich aber was vorgenommen! Viel Spaß mit Rico!«

      »Aber dass das gleich klar ist, Meister!«, polterte Ricos Stiefvater dazwischen. »Von uns kriegen Sie keinen Pfennig!«

      Toni hatte Rico mit dem Auto aus dem tristen Dorf abgeholt. Die Sachen, die er mitnehmen durfte, passten in den Kofferraum. Am Abend saßen sie zu dritt am Tisch und redeten über den Knockout.

      Kurz nach Ricos achtzehntem Geburtstag kamen dann die Verträge von Bornemeyer.

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