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was auf dem Mittnerhof vorgefallen ist, sie scheinen sich gut zu verstehen.« Harald stupste Miriam an, als sie das Sägewerk verließen und er Anna und Sebastian bemerkte, die in den Weg einbogen, der zum See führte.

      »Das kann sich schnell ändern«, erklärte Miriam und sah den beiden wie versteinert nach.

      *

      »Ist dieser Anblick nicht einfach unglaublich?« Anna wohnte nun schon so lange in Bergmoosbach, aber die Aussicht, die sich ihr vom See aus auf das Tal und die Berge bot, beeindruckte sie stets aufs Neue. Wie immer in den Abendstunden war es hier draußen ganz still. Die Einheimischen waren längst zu Hause, und die Urlauber saßen um diese Uhrzeit in den Wirtshäusern oder im Biergarten der örtlichen Brauerei.

      »Vor einem Monat sind Emilia und ich nach Bergmoosbach gekommen, seitdem war ich noch nicht einmal am See«, gestand ihr Sebastian, als sie aus dem Schatten der Bäume heraustraten und sie sich in einer Postkartenidylle wieder fanden.

      Der kristallklare See war in hüglige Wiesen eingebettet. Ihre sanften Rundungen formten das Ufer und bildeten kleine liebliche Buchten. Ganz allmählich stiegen die Hügel hinter dem See an, trugen dunkle Tannenwälder mit hellgrünen Lichtungen und stießen schließlich an die Berge mit ihren vereisten Gipfeln, die sich an den tief blauen Himmel streckten.

      »Fühlst du dich wieder zu Hause?«, fragte Anna.

      »Ja, ich denke, ich bin wieder angekommen, aber das liegt sicher auch an meinen Erinnerungen, die ich mit Bergmoosbach verbinde. Für Emilia ist es schwerer, sich zu Hause zu fühlen, auch wenn sie als kleines Kind oft hier war. In den letzten Jahren kamen mein Vater und auch Traudel ja dann immer zu uns, weil Emilia die Ferien lieber mit ihren Freunden verbrachte.«

      »Sie macht auf mich keinen unglücklichen Eindruck, und ich denke, seit gestern findet sie es hier auch ziemlich interessant.«

      »Du meinst wohl, sie findet Markus interessant.«

      »Ja, das meine ich.«

      »Komm, ich zeige dir meinen Lieblingsplatz.« Er führte sie zu einer Birke, die dicht am Ufer stand, und breitete seine Jacke unter den tief hängenden Ästen aus, bevor sie sich hinsetzten.

      Die kleine Bucht lag an der schmalsten Stelle des Sees und bot einen guten Blick auf das gegenüberliegende Ufer. Der Boden war samtweich, es roch nach Wiese, Klee und frischen Kräutern, ein Duft, der Annas Sinne sonst immer beruhigte. An diesem Abend war es anders, alles war anders, sie spürte Sebastian neben sich, und diese verwirrenden Gefühle einer aufkeimenden Liebe machten sie beinahe schwindlig.

      Eine neugierige Libelle mit blauem Köpfchen und durchsichtigen Flügeln schwirrte auf sie zu, verharrte kurz vor ihnen, bis sie abdrehte und an ihnen vorbeiflog.

      »Manche Menschen fürchten sich vor Libellen«, sagte Anna, als Sebastian dem zarten Wesen nachschaute.

      »Grundlos, sie sind weder giftig noch stechen sie, für uns Menschen sind sie völlig harmlose Schönheiten.«

      »Was ist?«, fragte Anna leise, als er sich ihr zuwandte und sie anschaute.

      »Du dagegen bist keine harmlose Schönheit, Anna, du bist sogar äußerst gefährlich«, sagte er und während er sie betrachtete, spielte er zärtlich mit den Spitzen ihres seidigen Haars.

      »Gefährlich für wen?«

      »Für mich.«

      »Einer Gefahr solltest du ausweichen.«

      »Ich wünschte, ich hätte den Mut, es nicht zu tun.« Er ließ ihr Haar aus seinen Finger gleiten, zog seine Beine an, umfasste sie mit seinen Armen und schaute an den Horizont.

      »Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Anna erschrocken.

      »Nein, du hast nichts Falsches gesagt. Es liegt an mir, ich kann noch nicht loslassen, ich kann Helene noch nicht loslassen.« Er legte seinen Kopf auf seine Knie und kämpfte gegen den aufsteigenden Schmerz, der ihn wieder spüren ließ, wie sehr er seine Frau vermisste und wie sehr er sie noch immer liebte.

      »Erzähle mir von ihr, Sebastian, ich würde sie gern kennen lernen.«

      »Helene kam aus Montreal, und sie war eine begnadete Malerin. Ich hatte gerade in der Praxis im Norden von Kanada angefangen, als wir uns das erste Mal begegneten. Es war mitten im Winter, und ich wurde zu einem Patienten gerufen, einem Indianer, der mit seiner Familie in einem kleinen Dorf am Ufer eines Flusses lebte. Helene saß in Decken eingehüllt auf einem Felsen am Ufer und zeichnete die vereiste Landschaft, nur mit dem Mond als einzige Lichtquelle. Ich werde diesen Augenblick, als sie mich zum ersten Mal ansah, nie vergessen. Ihre Augen, ihr Lächeln.«

      »Verzeih, Sebastian, ich wollte dich mit meiner Bitte, mir von ihr zu erzählen, nicht quälen.« Anna sah die Tränen in seinen Augen, und es tat ihr weh, ihn so leiden zu sehen.

      »Du musst dich nicht entschuldigen, es tut mir gut, von ihr zu sprechen«, sagte er und wischte die Tränen mit dem Handrücken weg.

      »Wie bist du eigentlich darauf gekommen, in Kanada zu studieren?«, lenkte Anna ihn auf ein anderes Thema, um ihm Zeit zu geben, sich wieder zu fangen.

      »Mit sechzehn war ich während eines Schüleraustausches ein paar Wochen in Toronto. Sean, dessen Familie mich aufgenommen hatte, und ich wurden gute Freunde. Da er auch Medizin studieren wollte und ich Kanada aufregend fand, beschlossen wir, unser Studium gemeinsam durchzuziehen. Tut mir leid«, sagte er leise, als er erneut von seiner Erinnerung an Helene überwältigt wurde.

      »Alles erscheint dort schöner als hier, alles sieht neu aus, und lieblich sind die Gewässer und Früchte und alles andere«, wiederholte Anna die Worte, die sie vor kurzem in einem Buch über die Weisheiten der Indianer gelesen hatte.

      »So beschreiben die Lenape Indianer das Jenseits.«

      »Eine tröstliche Vorstellung«, sagte Anna und ließ sich vom Farbenspiel des Sonnenuntergangs gefangen nehmen.

      Die Berggipfel waren glühend rot, und der Himmel bot ein Potpourri aus lila und roten Farbtönen, die sich im See wiederspiegelten. Wenig später brach die Nacht herein, und als die Sterne aufgingen, zog sich die Milchstraße wie ein nebliger Bogen über das Tal.

      »Du weißt, warum wir diesen See den Sternwolkensee nennen?«, fragte Sebastian, der sich wieder im Griff hatte.

      »Ja, ich kenne die Geschichte. Als die ersten Siedler in einer sternklaren Sommernacht dieses Tal erreichten, spiegelte sich die Milchstraße wie eine Wolke im See, deshalb nannten sie ihn den Sternwolkensee.«

      »Es wäre schön, wenn wir uns hin und wieder an diesem Ort treffen könnten.«

      »Um den Sonnenuntergang zu betrachten?«

      »Ja, auch. Ich bin gern mit dir zusammen, Anna«, sagte er und umfasste ihre Hand.

      »Ich bin auch gern mit dir zusammen.«

      »Ich brauche nur einfach noch ein bisschen Zeit.«

      »Ja, ich weiß«, antwortete sie leise, als er ihre Hand wieder losließ.

      Sie blieben noch eine ganze Weile am See, und Anna hörte Sebastian fasziniert zu, als er von seiner Zeit in der Landarztpraxis in Kanada erzählte, wenn es im Winter nicht hell wurde und sie in der Dunkelheit mit Schneefahrzeugen durch die Wälder zu ihren Patienten vordringen mussten.

      Gegen Mitternacht begleitete er sie nach Hause, und sie verabschiedeten sich vor der Apotheke voneinander. Eine kurze freundschaftliche Umarmung, dann war Sebastian fort.

      *

      Miriam stand auf ihrer Dachterrasse. Sie bewohnte das obere Stockwerk der Familienvilla gegenüber des Sägewerks. Ungeduldig hatte sie darauf gewartet, dass Sebastian und Anna von ihrem Spaziergang zurückkamen.

      »Du wirst ihn niemals bekommen, Anna Bergmann, keine außer mir wird ihn bekommen«, flüsterte sie.

      *

      Anna liebte ihre Arbeit und sie war immer mit ganzem Herzen dabei, aber

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