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Freud sucht die Oberfläche des Bewusstseins zu durchdringen, um im Unbewussten die Ursachen all jener Verdrängungen, Verzerrungen und Selbsttäuschungen zu finden, die das Bewusstsein entstellen. Der in diesen Theorien mächtig artikulierte Zweifel an der Fähigkeit des Menschen zu klarer Erkenntnis und freier Entscheidung schöpfte furchtbare Bestätigung aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts inmitten Europas. So knüpften viele Wissenschaftler – nach zwei Weltkriegen, nach der Judenvernichtung der Nationalsozialisten, nach Stalins Massenmorden – bei diesen Meistern des Zweifels an, als es darum ging, zu begreifen, was niemand sich hatte vorstellen können. Entsprechend gestaltete sich die Ideologiekritik der Frankfurter Schule, die Diskursanalyse Michel Foucaults, der Dekonstruktivismus Jacques Derridas und all die Unternehmungen, die in deren Kielwasser folgten, zu einer Pathographie des menschlichen Bewusstseins.

      Die neueren Forschungen zur kulturellen Erinnerung beziehen die Erinnerung an diese Katastrophen ein, nehmen sie aber meist nicht als den zwingenden Ausgangspunkt aller geschichtswissenschaftlichen Reflexion. Sie setzen an bei den grundsätzlichen Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeiten von Erinnerung. Der Mensch kann gar nicht anders, als aktiv – „konstruktiv“, auch „imaginativ“ – umzugehen mit seiner Vergangenheit wie mit seiner Gegenwart. Darin gründet seine Fähigkeit, den Andrang der Wirklichkeit nicht nur passiv zu erdulden, sondern ihm gestaltend zu begegnen. Die Drohung von Hunger, Armut, Not und Leid zwingt ihn, sich dieser Fähigkeit auch zu bedienen. Wie ihm das dann ausschlägt – in zeitweiligem Glück oder in Zerstörung und Grauen, in notdürftigem Überleben oder spürbarer Besserung der Lebensbedingungen –, das ist jeweils offen.

      Das Konzept der „Schlüsselfigur“, auf dem die Vortragsreihe MYTHEN EUROPAS aufbaut, konzentriert sich im Feld der Erinnerungsforschung auf die Entstehung erinnerungsprägender Gestalten: Welche Gegenwart hat die Menschen disponiert für eine Schlüsselfigur? Zum „Schloss“ welcher Wünsche und Bedürfnisse bietet sie den „Schlüssel“? Auf welche Sehnsüchte und Ängste gibt sie eine Antwort? Da Schlüsselfiguren, wie oben skizziert, die verschiedensten kognitiven und psychischen Anliegen bündeln, könnten sie auch Zugänge für geschichtswissenschaftliche Fragestellungen eröffnen, die anderwärts nur unter Schwierigkeiten zu Material und Quellen kommen. Die Geschichte der Emotionen findet hier Ansatzpunkte; ebenso die Psychohistorie mit ihrer schwierigen Suche nach den unsteten Grenzen zwischen ‚bewusst‘ und ‚unbewusst‘ oder mit ihrer Analyse epochal typischer Verdrängungen. Figuren besitzen meist eine kaum zu beherrschende Mehrdeutigkeit. Sie wirken auf den Betrachter über mehr Kanäle, als die bewusste Vernunft übersehen kann. Und die strategische Absicht, die sie in Dienst zu nehmen versucht, wird oft genug durch höchst unerwartete Deutungspotentiale überrascht. Während die Geschichtsbücher meist von den Siegern geschrieben werden, kann in die Schlüsselfiguren auch eingehen, was die Unterlegenen umtreibt. Während unsere Geschichtsquellen meist das Weltbild der Elite dokumentieren, können Schlüsselfiguren auch Welterfahrung der ungebildeten Bevölkerungsschichten aufnehmen.

      Das Erkenntnisinteresse der Vortragsreihe ist also ein genuin historisches. Die Antworten müssen im Raum einer Geschichte der Imagination gesucht werden, in dem Literatur-, Kunst- und Religionshistorie mit der Geschichtswissenschaft ins interdisziplinäre Gespräch kommen. Von den herkömmlichen Motiv- und Stoffgeschichten der Literatur- und Kunstwissenschaftler unterscheidet sie die Frage nach der historischen Funktion; von den unter Historikern bevorzugten Verfahren die Absicht, auch die Hoffnungen, Sehnsüchte, Ängste und das Unbewusste der Menschen als historische Faktoren ernst zu nehmen. Die Überlieferungs- und die Forschungslage wird für diese Fragestellung oft nicht günstig sein; im Allgemeinen verbessern sich diese Voraussetzungen aber mit dem Fortschreiten in der Zeit. Die einzelnen Beiträge suchen sich auf jenen Zeitraum zu konzentrieren, in dem die jeweilige Figur den qualitativen Sprung zu überregionaler, exemplarischer Ausstrahlung gemacht hat. Jeder Band wird die Vorträge zu einer bestimmten Epoche zusammenfassen. So müsste sich im Lauf der Jahre eine aufschlusskräftige Reihe von Epochenphysiognomien ergeben.

      Die Beiträge sind konzipiert als „Wintervorträge“ an der Katholischen Universität Eichstätt. Entsprechend der Tradition dieser Reihe wenden sie sich an ein breites Publikum. Dies gilt auch für die Publikation dieser Vorträge. In sieben Etappen – über sieben Wintersemester – soll der Zeitbogen von der Antike bis zum zwanzigsten Jahrhundert abgeschritten werden. Entsprechend sind sieben Bände geplant: zusammengenommen sollen sie einen Längsschnitt durch die Geschichte der europäischen Imagination legen.

      SCHLÜSSELFIGUREN DER ANTIKE

      Der erste Band gilt der Antike. Sie hat Europa nicht nur mit einem Reservoir mythopoetischer Figuren versorgt, die über zwei Jahrtausende hin immer aufs Neue aktualisiert werden konnten. Sie hat auch, mit der griechischen Philosophie wie mit der patristischen Theologie, jene grundsätzliche Mythen-Kritik in Angriff genommen, in deren Folge und gegen deren Absicht die Figurenbildung der kollektiven Imagination ihre eigenständige und unzerstörbare Macht erwies: So entschieden das Christentum auch die antiken Mythen teils als heidnisch abgedrängt, teils durch allegorische Interpretation ihrem alten Kontext entwendet und assimiliert hat, so wenig gelang es ihm, die mythenbildenden Energien stillzustellen. Dass die altererbten Figuren und Geschichten

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