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steht im Gegensatz zu dem rationalen Gesetz einer kulturellen Herrschaft, das Menschen sich gegenseitig im Zusammenleben versichern. Die Menschen wollten, als ihr eigener materieller Wohlstand anwuchs, gerecht behandelt werden. So sollte die Autorität der staatlichen und sozialen Führung, die für Kriege, Kolonialisierungen, Versklavungen als Reichtum der Gesellschaft verantwortlich war, auch stärker auf die wachsenden individuellen Bedürfnisse der Menschen Rücksicht nehmen. Zwar finden sich neben der Unterscheidung von Natur und Kultur (vgl. weiterführend auch Descola 2013) die Begriffe Autorität und Individualität in der heute bekannten Form hier noch nicht, aber es gibt Beschreibungen, die ihnen ähnlich sind; dies gilt auch für die Nachhaltigkeit des Handelns.

      Schauen wir uns einige solcher Beschreibungen an. Wenn es um Fragen der Autorität und möglicher Individualität, dabei auch der Nachhaltigkeit des Handelns für die Zukunft geht, dann entstehen immer Fragen der Verantwortung. Wer ist für ein nachhaltiges Streben verantwortlich?

      In Platons Politeia findet sich ein Dialog des Sokrates mit Glaukon und Adeimantos, zwei Vertretern der jungen Elite Athens, der die uralte Herkunft des Spannungsverhältnisses von Autorität und Individualität beschreiben helfen kann. Wenn die Individuen stets nur nach ihrem eigenen Vorteil streben, wer soll dann für Nachhaltigkeit einstehen? Die Antwort heißt: Es muss eine Autorität sein. Aber welche?

      Autorität meint in der Antike sowohl die väterliche wie die staatliche Autorität, die hier als Überlieferung, als Tradition und Festhalten am Bewährten für einen guten Weg, vor allem aber für einen gerechten Weg steht.

       Die Stufen des Egoismus

      Glaukon legt dar (Platon Politeia 358 b ff.), dass es sich für viele Menschen deutlich günstiger darstelle, ungerecht zu handeln, nur auf den eigenen Vorteil zu sehen und gegen andere die höchsten Gewinne zu machen. Das Unrechttun wird, wenn und weil es so erfolgreich ist, als gut angesehen, allein das Unrechtleiden erscheint als schlecht. Ja, schlimmer noch, wenn den Menschen die Möglichkeit gegeben wäre, sich unsichtbar zu machen (genannt wird das mythische Beispiel des Rings des Gyges, mit dem dies möglich wäre), dann würden unter dem Schutz der Unsichtbarkeit selbst vorher tugendhaft Erscheinende zu übelsten Taten neigen, weil man dann nicht öffentlich sehen könnte, was sie tatsächlich in ihrem Eigennutz tun. Denn das Ungerechte bringt allemal mehr ein als das Gerechte, das man sich im Grunde nur leisten kann, wenn man schon Vieles hat.

      Damit ist schon früh in der Menschheitsgeschichte ein erster Grundsatz fehlender Nachhaltigkeit beschrieben worden. Wenn der Mensch nur um seine egoistischen Interessen – zunächst denen des Stammes oder der eigenen Sippe, dann der Familie und schließlich des Individuums – kreist, wenn er nicht auf die Verluste der anderen schaut und sich um keine sozialen und ökologischen Folgen kümmert, dann verwandelt sich der persönliche Vorteil in einen Nachteil für andere. Die ignorante Haltung gegen die anderen und die Welt ist seither eine Begleiterscheinung menschlicher Handlungen, die dadurch unsichtbar gemacht wird, dass sie uns als menschlich und natürlich gilt.

      Glaukon ist sich solcher Ungerechtigkeit bewusst, obwohl er noch nicht von den ökologischen und weiteren Katastrophen wissen konnte, die nicht nur das soziale Gefüge des Menschen in Ungerechtigkeit ertrinken lassen, sondern den ganzen Planeten als Angriffsziel auserkoren haben. Die Kurzsichtigkeit des Handelns, die ins Hochwasser des Überflusses als Bevorzugung vor allem materieller Werte führt, und die fehlende Vernunft, die von der Erziehung nicht hinreichend ausgebildet wurde, bilden den Kern dessen, was Platon als Gründe für die fehlende Nachhaltigkeit des menschlichen Handelns aufzeigt. Dabei versteht er Nachhaltigkeit keinesfalls ökologisch, sondern sieht sie als Ausdruck einer gelungenen Lebensführung.

      Die Antike scheint eine unmittelbare Vorbereitung unserer Zeit zu sein: Die Ähnlichkeiten sind verblüffend. Die frei als Bürger agierenden Menschen haben Macht, indem sie entweder auf Basis der bestehenden Regeln und Gesetze sich das von anderen nehmen, was sie in diesem Rahmen kraft ihrer Autorität, ihres Besitzes, ihrer Ämter oder Möglichkeiten können, oder indem sie möglichst unsichtbar ihre Macht verborgen verwirklichen und stärken. Es hat sich, so Glaukon, eine Individualität der Stärksten und Mächtigsten im alten Athen herausgebildet, die gegen den Rest der Gesellschaft ihre eigene Autorität praktiziert, selbst wenn sie sich der Autorität des Staates und höherer Ideale und Traditionen scheinbar noch beugt, diese aber überwiegend zu ihren Gunsten auslegt.

      Die Rede des Glaukon, von Platon im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung geschrieben, lässt sich in vielerlei Hinsicht auf die Gegenwart einer neoliberalen Welt übertragen, in der sowohl die sichtbaren wie die unsichtbaren Strategien zum eigenen Vorteil und zur Übervorteilung anderer für Reichtum, Wohlstand, Erfolg, Befriedigung und ein »erfülltes« Leben stehen, wie es öffentlich in den Medien gefeiert und von den kapitalistischen Staaten kaum begrenzt wird. Ist dieser Sieg der Ungerechten, wie Platon sie bezeichnet, über die Jahrtausende ungebrochen und nicht zu verhindern? Entspricht die Ungerechtigkeit einem Teil des Menschen, der sich immer wieder Bahn bricht? Ist die Ungerechtigkeit gegen andere und die Welt das oberste Erziehungsziel aller Gesellschaften seither, ist es ihr offensichtlicher oder eher heimlicher Lehrplan?

       Regulation zum Wohle aller

      Adeimantos fügt diesen Überlegungen eine andere Seite hinzu (362 d ff.). Er schreibt, die Väter ermahnten die Söhne, gerecht zu sein, nicht bloß mit Worten, sondern mit Taten, um für die Familie in der sozialen Welt einen guten Ruf zu erreichen und zu bewahren. Hieraus könne »wahre« Autorität erwachsen, obrigkeitliche Aufgaben könnten von solchen Menschen besser wahrgenommen werden, Zugehörigkeiten und Verbindlichkeiten zum Wohle aller werden gebildet und praktiziert. Dies erscheine nachhaltiger im Sinne einer Gerechtigkeit für die jeweilige Gegenwart und für alle Zukunft. Denn wer wolle sich schon von selbstsüchtigen, nur auf den eigenen Vorteil bedachten Menschen, wie es Glaukon vorschlägt, regieren lassen?

      Aber reicht ein guter Ruf, ein anständiges soziales Verhalten, die Betonung der Gerechtigkeit durch Überparteilichkeit aus, um hinreichende Autorität zu erlangen? Bedarf es nicht der Gelder und eines Vermögens, das den eigentlich guten Ruf fundieren muss? Würde man denn jemandem, der es bisher zu nichts gebracht hat, überhaupt Vertrauen schenken? Adeimantos gibt zu, dass es allein vor den Göttern günstig scheinen kann, arm, aber gerecht zu sein. Der Lohn der Ungerechtigkeit, der Ausnutzung, Übervorteilung und Ausbeutung anderer übertrifft in der Regel die Verlockungen einer himmlischen Projektion, und Gerechtigkeit muss ins reale Leben übersetzt werden. Ein Leben jenseits allzu menschlicher Maßstäbe ist hingegen höchst ungewiss und fände erst nach dem Tode statt.

      Vor diesem Hintergrund lässt Platon Sokrates das Problem dennoch positiv lösen und einen idealtypischen Staat entwerfen, dessen Philosophenherrscher in langer theoretischer und praktischer Ausbildung die Weisheit vor die materiellen Begierden stellen, um ihre vernünftigen Einsichten dann mit Autorität und Gewalt gegen alle durchzusetzen. Dies ist in der politischen Philosophie seither ein Bild voller Verlockungen geblieben. Eine Vernunft ist möglich, die so konstruiert ist, dass eine ideale Gesellschaft und eine Nachhaltigkeit in allen Lebensbelangen – für den Menschen wie die übrige Natur – erreicht werden kann. Der Reiz einer solchen Vernunft begleitet seither die großen politischen Bewegungen in der menschlichen Geschichte, die beispielsweise in Vorstellungen der Französischen Revolution, sozialistischer oder kommunistischer Diktaturen, großartiger paradiesischer Visionen oder populistischer Heilsversprechen münden, die mehr oder weniger immer mehr versprechen als die Realität dann halten konnte oder kann. Dies gilt bereits für Platon selbst, der einen aristokratischen Stadtstaat entwirft, dessen demokratische Geschicke von aristokratisch Gleichen als Diktatur einer Sklavenhaltergesellschaft praktiziert wurde. Dennoch erscheint es seither als möglich, dass sich durch die menschliche Vernunft und eine staatliche Organisation die menschlichen Begierden so begrenzen lassen, dass die menschliche Entwicklung selbst nicht gefährdet erscheint und Gerechtigkeit möglich wird. Die menschliche Geschichte seither zeigte jedoch eher jene im Vorteil, die sich machtbewusst, gewaltbereit, kriegerisch, ausbeutend und erobernd verhielten, jene, die Gewinne machten. Nun könnte ich schließen, dass aber selbst diejenigen, die immer nur Vorteile für sich ziehen wollen, zumindest dann vernünftig handeln

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