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es danach hingehen soll, weiß ich noch nicht.

      Jede Tasse, jeder Brief, jedes Buch, alles nehme ich im Laufe des Ausräumens in die Hände, um es nach unterschiedlichen Kategorien zu sortieren:

      •kann auf den Müll

      •wird verschenkt

      •wird verkauft

      •soll mit ins Wohnmobil

      •kommt ins Basislager bei N.s Eltern

      •wird eingelagert

      •wird im Garten in der Feuerschale verbrannt

      Immer wieder packt mich eine Versonnenheit, eine Verlangsamung, ein Dahinträumen, wenn mich der Gegenstand, den ich da gerade in den Händen halte, an etwas Bestimmtes erinnert: Kisten voller Liebesbriefe, die Briefe, die ich meiner Mutter von der langen Neuseelandreise schickte, die ersten Schuhe meiner Tochter, das Pixibuch vom Schellenursli, welches mich an meine Stiefmutter erinnert, diverse Muscheln und Steinsammlungen aus den verschiedensten Urlauben, Milchzähne meiner Tochter, ein Schnipsel Gummiband, eine bunte Perlenkette, Spielfiguren, Bernsteinschmuck aus Moskau, ein Topflappen, den meine Tochter voller Geduld für mich gehäkelt hat.

      Und so hangele ich mich von Gegenstand zu Gegenstand, von Erinnerung zu Erinnerung.

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      Will ich die Dinge weiter um mich haben? Werde ich sie vermissen, wenn ich sie einlagere? Brauche ich sie wirklich noch? Manchmal laufen mir die Tränen über die Wangen, so sehr gehen mir die Erinnerungen nach. So viel Leben liegt schon hinter mir, so viel Fülle, so viele Menschen, so viele Erfahrungen, Ereignisse, Eindrücke … Ich kann gar nicht mehr damit aufhören, die Flut an Erinnerungen um mich herum auszubreiten wie den weiten Stoffumhang eines Mantels. Einen Mantel, wie ich ihn als Kind vor Augen hatte, wenn ich an einen König oder eine Königin dachte. Eingehüllt sitze ich in diesen Erinnerungen.

      In diesen Momenten verliere ich das Zeitgefühl. Die Zeit im Jetzt verwebt sich auf undurchsichtige Weise mit der von früher, die Erinnerungen vermischen sich, die eine löst die andere aus. Nur punktuell kann ich sie beeinflussen, sie kommen und gehen, laden sich gegenseitig ein. Die eine berührt mich mehr, die andere betrachte ich fast von außen, wie die Zuschauerin eines Filmes oder Theaterstückes.

      Ab und an kommt die Katze vorbeigestrichen und schnuppert an den Dingen, die ich bereits in die Kisten gelegt habe oder die noch ausgebreitet auf der Holzbank liegen. Als wüsste sie, wie besonders diese Stunden sind, schmiegt sie sich an meine Beine.

      Noch nie war mir so sehr bewusst, wie stark Gegenstände mit Erinnerungen zusammenhängen. Natürlich, sie sollen erinnern, dazu sammeln wir sie ja auch, dafür kaufen wir ja auch Reiseandenken oder nehmen uns einen Stein vom Strandspaziergang mit. Aber dass sie in Anbetracht eines möglichen Verschwindens aus dem eigenen Leben (z. B. durch Verschenken, Verkaufen oder Wegschmeißen) noch einmal so sehr nach Aufmerksamkeit rufen, das hätte ich nicht gedacht.

      Nein, sie rufen ja nicht wirklich. Ich höre ihnen vielmehr zu, während ich sie in die Hände nehme und ihnen meine geballte Aufmerksamkeit schenke. Das hatte ich lange nicht. Es ist schön, diese Erinnerungen zu haben – auch ohne diesen oder jenen Gegenstand. Ich habe ja alles in meinem Kopf, also brauche ich nicht so viel.

      Manches hat seine Zeit gehabt und soll nun verbrannt werden, hat ausgedient. Oder ich will es einfach nicht mehr. Mit dreißig wollte ich einige Briefe unbedingt aufbewahren, da hatten sie eine ganz wichtige Funktion. Nun, fast zwanzig Jahre später, dürfen sie getrost in Flammen aufgehen. »Alles hat seine Zeit«, sage ich mir immer wieder. Auch das hier. Ein langer Prozess ist es, dieses Heraussortieren, dieses Mich-frei-Machen von so viel Ballast.

      UND NUN? ANNEHMEN DES SCHICKSALS

      Aber warum musste ich denn überhaupt packen und aussortieren?

      Da hatte es einen Ruck gegeben, eine Veränderung in meinem Leben. Eine Unterbrechung des Alltags. Ein Ruf im Sinne der Heldenreise.

      Aber warum rief ich dieses Projekt eigentlich ins Leben? Was war der Anlass?

      Mein Haus, das ich einstmals für meine Tochter und mich gekauft hatte, teilte ich später, blauäugig, verliebt und ein wenig eingetrübt durch eine gewisse rosarote Brille, mit einem anderen Menschen und lebte eine kleine Weile mit diesem Menschen zusammen.

      Noch Jahre nach der Trennung gab es so etwas wie einen Rosenkrieg, der trotz diverser Friedensangebote kein Ende fand. Das Haus, einstmals ein wunderschöner Heimathafen, wurde zum Spekulationsobjekt. Eine Auszahlung war für mich zum damaligen Zeitpunkt nicht möglich, die Zahlen überstiegen mein Budget und meine Möglichkeiten.

      Vor meinem geistigen Auge sah ich es schon: Plötzlich wird das geliebte Haus verkauft, und ich muss raus, vermutlich muss ich dann »schnell« raus und habe noch keinen neuen Platz. Und ein neues Haus konnte ich mir nicht leisten, mein Kapital war noch in dieser jetzigen Immobilie gebunden.

      Und mein Herz blutete, denn keine neue Wohnsituation, die ich mir ausmalte, hielt dem Vergleich mit meinem Haus stand, in dem ich das erste Mal in meinem Leben für mehr als 10 Jahre gelebt hatte.

      Eine fatale Situation, wie ich damals fand. Ich war traurig, fühlte mich in der Falle sitzend, ungerecht behandelt, als Opfer und bemitleidenswert. Aber ich hatte wirklich keine Idee, wo ich hinwollte. Dort im Ort bleiben, wo ich dann immer am alten Haus vorbeilaufen sollte? Nein, das nicht.

      Eine Krise? Das Schicksal, das an die Tür klopft? Eine Chance, ein neuer Schritt?

      Menschen, die Herausforderungen und Schwierigkeiten annehmen und sie als Chance für eine Veränderung sehen, diese Menschen wissen, dass solche Herausforderungen zum Leben dazugehören, und sie wissen, dass es normal ist, dass etwas ihr Denken und Fühlen durcheinanderbringt, es sie tiefer als gewöhnlich erschüttert. Sie haben erfahren, dass es sogar gut ist, diese Erschütterung zuzulassen. Anschließend aber wird eine Neusortierung und Neuordnung ihrer eigenen Welt möglich, ihrer Gefühle, Werte, Glaubenssätze und Gedanken.

      Die ersten Schritte sind dabei für mich die Akzeptanz und das Eingeständnis, dass ich ratlos bin, dass ich »NOCH keinen Namen habe« für das, was sich da Neues außerhalb meiner Komfortzone befindet. Ich erlaube mir, meine üblichen und normalen Antworten nicht zuzulassen, sondern einen neuen Raum zu öffnen: Ich weiß noch nicht, was kommt. Und gehe weiter, zuversichtlich, vertrauensvoll, Schritt für Schritt.

      Die Schritte gehen in den Übergang – in einen unklaren, nicht bekannten Raum. Namenlos – ohne Konturen. Unklar, nicht gezeichnet, neu. Ein neues Ufer, ein neuer Weg.

      Und der Schritt in den Übergang scheint mir klar und das Sinnvollste der Welt – denn es gibt keine Antwort auf die Frage nach dem Wohin.

      Das komplette Loslassen ist eine Antwort. Und damit eine Einladung, beherzt und zuversichtlich ins Ungewisse zu gehen. Das Schicksal anzunehmen, nimmt mich einerseits ein, andererseits füllt mich allein diese Haltung mit Kraft und Zuversicht aus.

      »Wege entstehen im Gehen.« Und dies war ein neuer Weg. Zumindest für mich.

      Jammern und Klagen, Opferallüren hingegen machen Menschen unfrei, sie geben anderen die Schuld – oder ehrlicher ausgesprochen die Verantwortung für ihre Situation und ihr Schicksal. Das hätte ich wahrlich tun können – doch es hat und hätte mich nicht weitergebracht.

      Stattdessen handelte ich im Rahmen meiner wirklichen Möglichkeiten, vertraute also meiner Selbstwirksamkeit. Das Schicksal annehmen heißt nicht, alles über sich ergehen zu lassen. Ganz im Gegenteil – stattdessen das Steuerrad in den Händen spüren, das Beste aus dem machen, was da ist. Und dazu gehört es auch, die Erschütterung anzunehmen. Nehme ich sie nicht an, kann ich sie auch nicht überwinden. Sie ist der Garant dafür, dass es anders wird, dass es einen Unterschied zum Vorher gibt und dass Routine und übliche Gewohnheiten der Gedanken Reißaus nehmen.

      Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass diese Erschütterung sehr hilfreich ist, um aus dem gewohnten Muster auszusteigen und

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