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Rolle. Technische Innovationen wie Handkameras mit einer Vorrichtung zur Aufnahme des On-Location-Sounds ermöglichten nicht nur einen neuen Blick auf die Wirklichkeit in Abgrenzung zum allwissenden erklärenden Dokumentarfilm vergangener Jahrzehnte. Sie lieferten in ihrer Spontaneität und im Bruch mit den Konventionen des wohltemperierten Studiofilms auch wesentliche Impulse für die Nouvelle Vague, die gegen die sterilen Konventionen der sogenannten tradition de qualité, also gegen aufwändige Literaturverfilmungen mit geringem Bezug zum wahren Leben der jüngeren Generation, aufbegehrten.

      Chytilovás Inszenierung lässt Freiraum für Improvisationen, besteht aber dennoch auf der Bedeutung der filmischen Form. Rückblickend erklärt sie in einem Porträt der Serie ZLATÁ ŠEDESÁTÁ (GOLDENE SECHZIGER, 2009), dass es ihr um einen Standpunkt und nicht um die Erzählung gegangen sei. Durch ihre Lust am Experiment und durch die bewusste Konfrontation der traditionellen narrativen Muster des Dokumentarischen mit dem Unvorhergesehenen umschiffen sowohl DIE DECKE als auch EIN SACK VOLLER FLÖHE als Beispiele künstlerisch-soziologischer Recherche die Fallgruben des traditionellen Cinéma vérité.

      Im Sinne des ethnografischen Ansatzes von Morin und Rouch, die in CHRONIK EINES SOMMERS einen Sommer lang unterschiedliche Personen in Paris begleitet und befragt haben, versucht das Cinéma vérité die Porträtierten durch konkrete Interaktion in ihrem Alltag authentisch abzulichten. Das von Regisseur*innen wie D. A. Pennebaker, Chris Hegedus und Albert und David Maysles geprägte, stilistisch verwandte Direct Cinema verfolgt hingegen die Idee, hinter den Kulissen von politischen Wahlkampfauftritten und Rock-Konzerten mit der Kamera als Fly-onthe-Wall Beobachtungen außerhalb der Fassaden der öffentlichen Inszenierung einzufangen.

      Die vermeintlich unsichtbare Kamera, die in DON’T LOOK BACK (1967) Bob Dylan auf einer England-Tour und in GIMME SHELTER (1969) die Rolling Stones auf einer Reise durch die USA bis hin zur Katastrophe des Altamont-Festivals begleitet, definiert nicht nur die bis heute gültigen Standards der Rockumentaries. Sie kokettiert auch mit dem Versprechen, die Stars ungeschminkt und privat einzufangen, während sie, wie etwa Madonnas durchgehend selbstbewusst in Szene gesetzte Dokumentation IN BED WITH MADONNA – TRUTH OR DARE (1991) anschaulich belegt, in den meisten Fällen jedoch in erster Linie neue performative Räume kreiert, derer sich die Prominenten durchaus bewusst sind.

      Die scheinbar neutrale Beobachterposition des Direct Cinema erweist sich auf längere Sicht ebenso wie die vermeintliche Intimität der selbstreflexiven Gesprächsrunden des Cinéma vérité als Illusion und dankbare Zielscheibe für das Format der Mockumentaries, Fake-Dokumentationen, in denen die zum Klischee geronnenen Manierismen eines allzu unmittelbaren Dokumentarfilms vergnüglich dekonstruiert werden.

      Die Arbeiten der Nová Vlna geraten erst gar nicht in die Gefahr, dem naiven Blick des allzu unmittelbaren Dokumentarischen zu erliegen, denn sie machen sich, vielleicht aufgrund der Erfahrung der stalinistisch geprägten 1950er Jahre, von Anfang an keine Illusionen über das schwierige Verhältnis zum Abgebildeten. Stets beziehen sie inszenatorische Rahmensetzungen ein, die unterschiedliche Modalitäten des Dokumentarischen bis an die Grenze zum Essay-Film auf der einen und zum improvisierten Spielfilm auf der anderen Seite ausloten. Im Unterschied zur ironischen Satire der Mockumentaries fokussieren sie sich nicht auf die Demontage vermeintlicher Authentizitätssignale und deren Rhetorik, sondern erproben sich an einer bis heute ungewöhnlichen Kombination filmischer Inszenierungsstrategien im Grenzgebiet zwischen künstlerisch geformtem Realismus und einem performativ aufgebrochenen Formalismus.

       I. Autobiografische Abstraktionen und urbane Impressionen: DIE DECKE

      Mit ihrem Abschlussfilm DIE DECKE realisiert Věra Chytilová 1962 eine Kombination aus episodischem Spielfilm, Essay-Film, Momentaufnahmen im Stil des Direct Cinema und avantgardistischen Stadt-Impressionen. Im Mittelpunkt der Handlung steht die junge Marta (Marta Kanovská), die zugunsten einer Karriere als Model ihr Medizin-Studium aufgegeben hat. Der Plot des Films verarbeitet autobiografische Erfahrungen: Chytilová hatte die Studiengänge Chemie, Philosophie und Architektur begonnen, bevor sie als einzige weibliche Absolventin neben Jiří Menzel und anderen zukünftigen Vertretern der Nová Vlna in die Regieklasse des FAMU-Mitbegründers Otokar Vávra aufgenommen wurde.

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