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z. B. Freiräume zur Beteiligung am Leben anderer Menschen, Freiräume für Interesse, Präsenz, Gastfreundschaft, Beziehungen. Der Soziologe Hans Joas erzählt ein Beispiel: „Einer der Erfurter Theologieprofessoren, mit dem ich auch etwas befreundet bin und der in einem Dorf in Thüringen lebt, hat mir ein Beispiel gegeben: Er erzählte, im Regelfall gibt es rein säkulare Bestattungen, er habe es sich aber zum Prinzip gemacht, all diese Bestattungen zu besuchen und gewissermaßen als ‚Mitbewohner‘ dort anwesend zu sein. Das führe sehr häufig dazu, dass trauernde Angehörige in den nächsten Tagen bei ihm zu Hause vorbeischauen und sich bedanken für seine Anwesenheit. Aus diesen eigentlich nur als kurze ‚Stippvisite‘ gedachten Besuchen entwickeln sich oft stundenlange Gespräche über Trauer, über den Tod, über das, was wohl nach dem Tod kommt usw. Ich will damit sagen: Er leistet Seelsorge im allerbesten Sinn gegenüber Menschen, die nicht nur nicht Mitglied einer Kirche sind, sondern denen überhaupt jeder Zugang zu dem, was unter Kirche und Glauben läuft, abhanden gekommen ist und vielleicht sogar schon über mehrere Generationen.“5

      Was passierte, wenn sich Gemeinden verabreden, offene Türen zu nutzen, z. B. bei den Beerdigungen der Konfessionslosen? Wenn wir als Pfarrer nicht zuerst fragen, ob wir zuständig sind, sondern ob jemand uns braucht? Das wären ähnliche Haltungen wie die der ersten Christen, die den anonym Verstorbenen eine Beerdigung in Würde ermöglichten. Kaiser Julian, der versuchte, die Hinwendung zum Christentum zurückzudrehen, konzedierte widerwillig: „Begreifen wir denn nicht, dass die Gottlosigkeit (= das Christentum) am meisten gefördert wurde durch ihre Menschlichkeit gegenüber den Fremden und durch ihre Fürsorge für die Bestattung der Toten? … Die gottlosen Galiläer ernähren außer ihren eigenen Armen auch noch die unsrigen; die unsrigen aber ermangeln offenbar unserer Fürsorge.“6 So etwas würde uns einen erheblichen Anteil an gesellschaftlichem Respekt wie Vertrauen zurückbringen, das die Kirchen mit Missbrauchsfällen, irrelevanten Gottesdiensten oder überkommenen Privilegien auf Spiel gesetzt haben.

       2. Die Situation: Kreativität im Mangel entwickeln

      Ein berühmtes Foto von 1948 zeigt das Wenige, das Gandhi am Ende seines Lebens besaß: zwei Paar Sandalen, eine Brille, eine Uhr, zwei Messer, ein Buch … ein unglaublich einfaches Leben mit einer enormen Wirkung weit über Indien, weit über sein Leben hinaus. Wir gelten weltweit als eine der reichsten Kirchen – und das Verrückte ist: Obwohl wir mehr Menschen verlieren als wir gewinnen, haben wir immer noch viel Geld. Klaus Pfeffer, der Generalvikar des Bistums Essen sagte sinngemäß bei einer Tagung:„Das wieder kräftig sprudelnde Geld wird fatal wirken, denn es hält von notwendigen Veränderungen ab.“ Mehr Geld, weniger Mitglieder – beunruhigt uns das wirklich? Ein Vers aus dem Sendschreiben an die Gemeinde in Laodicea sagt: „Du sprichst, ich bin reich und habe genug und brauche nichts, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß“ (Offb 3,17).

      Nun bedeutet Mangel, Knappheit nicht immer Gutes. Es gibt Mangel als Defätismus, oder mit Karl Barth gesprochen, als Trägheit, also als grundlegendes Format von Sünde. Trägheit ist des Menschen Unglaube: „Er verschließt sich dem göttlichen Wohlwollen, das ihm in der göttlichen Forderung zugewendet ist“, er möchte von diesem, von Gott ihm gesandten Nächsten, von Jesus, mit dessen „Ruf in die Freiheit in Ruhe gelassen sein. Er hält die ihm in seiner Existenz angekündigte Erneuerung des menschlichen Wesens für unnötig […]. Ein ernstliches Bedürfnis, ein Hunger und Durst nach dessen Erneuerung ist ihm unbekannt.“7

      Trägheit erscheint bei Barth in den klassischen Formaten von Dummheit, Unmenschlichkeit, Verlotterung und Sorge. Ich erlebe sie heute v.a. als Resignation, als Gekränktheit, als Verweigerung oder Nostalgie. Man könnte sie klinisch als ‚Anelpidose‘ diagnostizieren, als Hoffnungsmangel8: ein Unglaube, der unserem Gott die Zukunft nicht mehr zutraut und deshalb lieber Sündenböcke sucht als schwierige Veränderungen annimmt. Der Anelpidose fehlt die Verheißungsorientierung, das Vertrauen auf Gottes Möglichkeiten, so wie den Skorbutkranken früherer Jahrhunderte Vitamin C fehlte und ihnen damit allen Antrieb nahm.

      Mangel als Trägheit heißt: alles geschehen lassen, die Weiterrechnung der Trends als Fatum sehen, sich absehbaren Entwicklungen einfach hingeben, die Propheten göttlicher Möglichkeiten als Träumer diskreditieren. Wer die Zukunft nur als Extrapolation bisheriger Entwicklungen sehen kann, unterstellt sich anderen Gesetzen als denen von Jesaja 43,19: Denn da setzt das unberechenbare Wirken Gottes eine Realität, die der entscheidende Faktor jeder Zukunft ist. Die einzige Voraussetzung menschlicherseits ist das Unableitbarkeitskriterium des Jesaja: nicht vom Früheren, vom Vorigen allein die Zukunft ableiten, sie ist ja gerade neu, unableitbar – und „siehe!“, die Augen für alles öffnen, was aufzuwachsen beginnt, es will entdeckt werden.

      Trägheit hat auch Anteile von Kurzsichtigkeit. Kann es denn sein, dass die sieben finanziell fetten Jahre jetzt vor allem zur Erhöhung der Rücklagen oder zur Sicherung der Altersversorgung der Babyboomer-Generation genutzt werden? Viel wichtiger wären das Ermöglichen von neuen Formen, das Aufspüren von Alternativen, die Herausforderung ungewöhnlicher Ziele, der Umbau überkommener Strukturen, der Aufbau von Alternativen zur herkömmlichen Finanzierung, die Freistellung von Pionieren für Arbeit unter Unerreichten.

      Es gibt biblisch auch einen klugen Umgang mit Ressourcen bei absehbarem Mangel: in den fetten Jahren klug umgehen mit dem Reichtum, um für den kommenden Mangel vorbereitet zu sein (Gen 41). Dann gibt es Segen im Mangel. Nur so kann Mangel zur Ressource werden, kann Knappheit zum Antrieb führen. Nur dann ist Hunger der beste Koch, der ungewohntes Denken fördert und handeln lässt.

      Ich bin kein Prophet, und das Ärgerliche am biblischen Kriterium für falsche bzw. echte Prophetie ist, dass man erst im Nachhinein klüger ist (Dtn 18,20 – 22). Aber es gibt einiges Aufbrechende, was es wert wäre, jetzt mit allem unterstützt zu werden, was uns möglich ist, damit sich daraus mögliche Zukunft entwickeln kann. Neue Formen von Gemeinde z. B., die sich nicht in die herkömmliche Trias von Institution, Organisation oder Bewegung fassen lassen. Auch eine Willkommenskultur für die vielen Gemeinden der fremdsprachlichen Christen unter uns wäre zukunftsfähig: Teilen unserer Gebäude statt Mietzahlungen von Geschwistern, Besuche in ihren Gottesdiensten statt exotischer Gesangsauftritte in unseren Gottesdiensten, Neugier auf Gottes Wirken dort statt Angst vor einer unberechenbaren Theologie und Frömmigkeit.9

      Oder der Aufbruch zu Unerreichten. Warum sollen in den kommenden Jahren nicht auch Menschen aus der muslimischen Bevölkerung hier in Jesus mehr und anderes entdecken als nur einen Vorläufer ihres 700 Jahre später gekommenen eigentlichen Propheten Mohammed? Es sind die jungen Einwanderer, die unsere Zukunft mitbestimmen werden. Was hindert uns, um sie mit der Liebe Christi zu werben? Nicht in der Situation von Verfolgung und Mangel, da brauchen sie Gastfreundschaft und Solidarität. Aber in absehbar kommenden Begegnungen auf Augenhöhe, in allen Kontaktmöglichkeiten, die unsere offene Gesellschaft braucht und bietet. Einladende Präsenz, Zeugnis des Evangeliums und Austausch des Lebens können Menschen zu Christus führen. Die weltweite Kirche tut das, ohne dass Dialog, Konvivenz und Mission zu Alternativen werden. In Tansania etwa gibt es sowohl eine Tradition des friedlichen Zusammenlebens wie auch eine nennenswerte Zahl ehemaliger Muslime, die Christen geworden sind. Hier in Deutschland sind es an einigen Orten iranische Schiiten, die sich für den christlichen Glauben interessieren und sich taufen lassen.

      Oder da ist die wachsende Zahl der Indifferenten. Detlef Pollack stellt fest: „Oft steht hinter der Abwendung von Religion und Kirche nicht eine bewusst vollzogene Wahl, sondern lediglich eine Aufmerksamkeitsverschiebung.“ Diese ‚Distraktions-These‘ sagt nicht, dass der Gottesdienst an sich für Indifferente uninteressant wäre, sie stellt aber sein schleichendes Ersetzen durch anderes fest: „Sie haben einfach anderes zu tun. Kircheninterne Gründe, dem Gottesdienst fernzubleiben, schlechte Predigten oder störender Gesang spielen hingegen keine zentrale Rolle. […] Die Abwendung von der Kirche vollzieht sich […] lautlos, unreflektiert und geradezu automatisch, als eine Abstimmung mit den Füßen, die sich einfach nicht mehr in Bewegung setzen wollen.“10 Auch das ist kein Automatismus: Warum soll es unmöglich sein, offene Indifferente wieder in relevante, einladende und kulturnahe Gottesdienste zu locken? 2011 kamen 70.000 Menschen in Großbritannien in Gottesdienste, die ohne Einladung nie dahin gekommen wären; Gottesdienst kann durchaus attraktiv sein, wie die Auswertungen des jährlichen

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