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Hinterzimmer. Und von da an verbrachte ich jeden Abend dort und gab all mein Geld dort aus, obwohl ich nur die einfachsten Getränke bestellte und sehr lange an einem Glase schlürfte. Das Milieu war gar zu schön. Es war aufregend schön. Es war mir etwas ganz Neues.

      Ich lernte im Laufe der Zeit das Lokal, seine Wirtin, seine Stammgäste, ich lernte dort Tausende von Menschen kennen.

      Die Wirtin in Chiemgauer Bauerntracht hieß Kathi Kobus und war ein Bauernkind aus Traunstein. Sie trug nicht immer dies Kostüm, sondern erschien auch in städtischen, kostbaren Garderoben und mit wertvollem Schmuck behangen. Immer sah sie repräsentativ und bestrickend aus, so daß sich viele Männer und Frauen in sie verliebten, obwohl sie damals schon etwa 55 Jahre alt war und eine Perücke trug. In der Weinstube »Dichtelei« war sie eine beliebte Kellnerin gewesen. Die Künstler, die dort verkehrten, hatten ihr zugeredet, selbst eine Kneipe aufzumachen. So gründete sie den »Simplizissimus« und erwarb sich als Plakat auf eine komische Weise den von Th. Th. Heine gezeichneten roten Hund.

      Heine, Rudolf Wilke, Wedekind und andere berühmte Leute verkehrten dort und jüngere Maler, Dichter und Schauspieler, die zum Teil später auch zu Ruhm und Geld kamen. Die alle unterstützten die Kathi, indem sie ihr Bilder schenkten oder gegen freie Zeche hingaben, Dekorationen entwarfen und einen ausgelassenen Betrieb aufzogen.

      Der »Simpl« war der Mittelpunkt der Boheme und war weltbekannt geworden. Wer in München lebte oder studierte, ging dorthin. Wer durch München reiste, kehrte bei Kathi ein. Ja, es kamen Leute aus Amerika und anderen Ländern weit her, nur um sie und ihre Künstlerkneipe kennenzulernen.

      Die jungen Künstler sangen zur Laute oder zum Klavier. Andere tanzten, führten Theaterszenen, Zauberkünste vor, jede Art künstlerischer Unterhaltung ward geboten. Anfangs geschah das improvisiert, später, als die Kathi dadurch viel Geld gewann, nach Vereinbarung und gegen Bezahlung, allerdings sehr spärliche Bezahlung. Auch Wedekind hat dort vorgetragen.

      An den Wänden bis zur Decke hingen bunt durcheinander Bildnisse von Brettlgrößen. La belle Otéro, Marya Delvard, Danny Gürtler, Sylvester Schaeffer. Dann Photos, Ölgemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Radierungen von Uhde, O. Seidel, Kaulbach, Segantini, Harburger, Vautier, Weisgerber, Futterer, Acbé und anderen. All diese Bilder hatten ihre humoristische oder ernste Geschichte. Acbé, genannt »Professor Nämlich«, war unter den ersten der treueste Stammgast gewesen. Man erzählte, er hätte sich im »Simpl« zu Tod gesoffen.

      Im Hinterzimmer war die Bühne, ein schmales Podium mit einem Klavier links und einem Harmonium rechts. Das Klavier bediente ein langhaariges Faktotum namens Klieber. Der alte Klieber brummte sonderbar vor sich hin, wenn er spielte. Er trank auch gern, und sein Lieblingsthema war Chemie.

      Der »Simplizissimus« war jeden Tag überfüllt. Waren alle Stühle besetzt, so wußte die Kathi doch noch immer für neue Gäste Platz zu schaffen. Es wurden Hocker in die Gänge gestellt. »Bitt' schön, rückt ein wenig zusammen!« sagte Kathi in ihrem Dialekt. Dabei legte sie bittend die Hände zusammen und ließ einen madonnenhaften Augenaufschlag wirken. Eine Minute später schimpfte sie in der Küche ein Lehrmädchen mit den gröbsten bayrischen Flüchen zusammen. Zu ihrer organisatorischen Begabung gehörte eine rücksichtslose Energie. Man erzählte sich, einmal wäre der deutsche Kronprinz inkognito im »Simpl« gewesen, und die Kathi hätte nach Polizeistunde zu ihm und ein paar anderen Säumigen gesagt: »Werd's hoam gehn, Saupreiß'n verdammte.« Häufig wurden Studenten, die im Suff skandalierten, von Kathi eigenhändig und gewaltsam an die Luft gesetzt.

      In dieses Milieu war ich also geraten, und es bannte mich mit dem Zauber der Neuheit. Mein Freund Telschow war nicht mehr in München. Ich saß allein, klein, in einem bescheidenen Winkel, lauschte den Vorträgen und starrte nach dem Ecktisch, wo die Künstler sich um ihren Löwen, den faszinierenden Dichter Ludwig Scharf gruppierten. Sehnlichst wünschte ich mir im stillen, mit zu diesem Kreis zu zählen und einmal auch auf der Bühne dort vortragen zu dürfen.

      Ich lernte die Namen kennen. Louis Staller trug zu eigener Begleitung prickelnd mondäne Chansons vor. »Erst kamen die seidenen Kleider und dann die Jupons voller Plis ...«

      Erich Mühsam, der damals manchmal in gemieteten Sälen politische Versammlungen »Für alle Unzufriedenen« veranstaltete. Frau Scharf, eine liebenswürdige und geistreiche Dame. Kubasch, der Komiker. Heinz Lebrun, ein sehr dicker Herr, der erstaunlich viel aß, unaufhörlich redete, aber auf dem Podium entzückend sang. »Ich hatte einst ein schönes Vaterland.« Manchmal sang er im Duett mit der beleibten und beliebten Muki Berger. Die hatte selbst eine sehr sympathische Stimme und trug ihre Lieder mit einer bestrickenden Natürlichkeit vor. Da sie zudem ein guter Mensch war, mochte jedermann sie leiden. »Ich gehe meinen Schlendrian« oder »In meiner Heimat«. Zu einer größeren Karriere fehlte ihr Energie. Auch Mary Irber sang dort manchmal. »Das Bettelprinzeßchen.« Die Behörde machte ihr damals Schwierigkeiten, weil sie auf der Bühne zu frei gekleidet erschiene. Julius Beck rezitierte. Jenny Hummel rezitierte auch und trug einen Hut, so groß wie ein Wagenrad. Dunajec, ein ungarischer Geiger, der seine schmeichelnden Töne reichen Damen ins Ohr spielte. Die gutmütige Mary Wacker, über deren unfreiwillige Komik viel gelacht wurde. Hugo Koppel, ein Mann mit einem Liszt-Kopf improvisierte am Harmonium, vertonte zum Beispiel die Speisekarte. Bobby Weiß und der sonnige Pollinger-Max tanzten Machiche und Cake-walk, was schon aus Platzmangel ein Kunststück war.

      Kathi Kobus übte die Conférence und sorgte für Ruhe. »Silentium für Anni Trautner!« – »Seid's doch stad!« Sie trug auch selber vor, Dialektgedichte von Julius Beck, und sie unterbrach ihre Vorträge ungeniert mit geschäftlichen Bemerkungen. »Anni, gib doch Obacht! Der Herr will zahlen!« – Oder, wenn sie am Eingang neue Gäste sah: »Kommen Sie nur herein, es ist noch viel Platz da.« Erich Mühsam brachte beißende Satiren. Zum Schluß erhob sich unter allgemeiner Spannung Ludwig Scharf. Von seinem Platz aus, stehend, und auf eine Stuhllehne gestützt, trug er seine eigenen Gedichte vor. »Ich bin ein Prolet, was kann ich dafür.«

      Es ging ein Witzwort um: Was ist der Unterschied zwischen Mühsam und Scharf? – Scharf dichtet mühsam, und Mühsam dichtet scharf. Das »mühsam« wollte in diesem Falle nur besagen, daß Ludwig Scharf in gewissenhafter und weiser Selbstbeschränkung nur wenig publizierte.

      Die Schauspieler vom Theater kamen. Durchreisende Künstler gastierten. Auch Damen oder Herren aus dem Publikum betraten auf Kathis süßes Flehen hin oder aus eigenem Antrieb die Bühne und ernteten Applaus, Dakaporufe oder Gelächter. Immer waren illustre und elegant gekleidete Gäste anwesend. Dazwischen verstreut hockten Literaten und Malweiber, die alles Echte und Unechte skizzierten. Die ewig junge Blumenfrau bot Rosen an und sagte im Davongehen lieblich lächelnd stets dieselben Worte: »Das nächstemal wieder.« Der fliegende Schokoladenhändler sah aus wie ein australischer Buschneger.

      Nun war obendrein noch Fasching, und so strömten Dominos und Masken vom Deutschen Theater und von den Redouten herein. Es war ein buntes Bild, und es war eine tolle Stimmung.

      Hausdichter im Simplizissimus

       Inhaltsverzeichnis

      Eines Nachts faßte ich den Mut, die Kathi zu fragen, ob ich einmal ein Gedicht vortragen dürfte. Sie willigte gern ein. »Silentium, ein Gast ist so freundlich, uns eigene Gedichte vorzutragen.«

      Ich weiß nicht mehr, ob ich Lampenfieber hatte, als ich das Podium betrat und ein paar lyrische Gedichte von mir vortrug. Jedenfalls wurde es ein völliger Mißerfolg. Nur aus Mitleid klatschten ein paar Hände. Ich verkroch mich kleinlaut.

      Ging aber weiterhin jeden Abend zum »Simpl«. Nach ein paar Tagen versuchte ich mich abermals auf der kleinen Bühne, fand aber auch diesmal keinen Anklang. Dies wurmte mich sehr. Ich dichtete ein langes humoristisches Gedicht, das auf die Lokalverhältnisse Bezug nahm und Kathis stehendes Wort brachte »Es ist noch viel Platz, nur immer herein.« Dieses Poem lernte ich auswendig und trug es vor. Der Beifall tobte. Kathi bedankte sich überschwenglich. Julius Beck und Hugo Koppel machten mir Komplimente.

      Den »Simplizissimustraum« – so hieß das Gedicht – trug ich nun allabendlich vor.

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