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über dem deutschen. Die russischen Eisenbahner und Postangestellten haben sich das Koalitionsrecht faktisch im Sturm erobert, und wenn es auch momentan Prozeß auf Prozeß und Mßregelung auf Mßregelung regnet, den inneren Zusammenhalt vermag ihnen nichts mehr zu nehmen. Es wäre aber eine völlig falsche psychologische Rechnung, wollte man mit der deutschen Reaktion annehmen, dß der Kadavergehorsam der deutschen Eisenbahner und Postangestellten ewig dauern wird, dß er ein Fels ist, den nichts zermürben kann. Wenn sich auch die deutschen Gewerkschaftsführer an die bestehenden Zustände dermßen gewöhnt haben, dß sie ungetrübt durch diese in ganz Europa fast beispiellose Schmach mit einiger Genugtuung die Erfolge des Gewerkschaftskampfes in Deutschland überblicken können, so wird sich der tiefverborgene, lange aufgespeicherte Groll der uniformierten Staatssklaven bei einer allgemeinen Erhebung der Industriearbeiter unvermeidlich Luft zu verschaffen suchen. Und wenn die industrielle Vorhut des Proletariats in Massenstreiks nach weiteren politischen Rechten greifen oder die alten wird verteidigen wollen, muß der große Trupp der Eisenbahner und Postangestellten sich naturnotwendig auf seine besondere Schmach besinnen und endlich einmal zur Befreiung von der Extraportion russischen Absolutismus erheben, die für ihn speziell in Deutschland errichtet ist. Die pedantische Auffassung, die große Volksbewegungen nach Schema und Rezept abwickeln will, glaubt in der Eroberung des Koalitionsrechts für die Eisenbahner die notwendige Voraussetzung zu erblicken, bei der man erst an einen Massenstreik in Deutschland wird »denken dürfen«. Der wirkliche und natürliche Gang der Ereignisse kann nur ein umgekehrter sein: nur aus einer kräftigen spontanen Massenstreikaktion kann tatsächlich das Koalitionsrecht der deutschen Eisenbahner wie der Postangestellten geboren werden. Und die bei den bestehenden Verhältnissen in Deutschland unlösbare Aufgabe wird unter dem Eindruck und dem Druck einer allgemeinen politischen Massenaktion des Proletariats ganz plötzlich ihre Möglichkeiten und ihre Lösung finden.

      Und endlich das größte und wichtigste: das Landarbeiterelend. Wenn die englischen Gewerkschaften ausschließlich auf die Industriearbeiter zugeschnitten sind, so ist das der dem spezifischen Charakter der englischen Nationalwirtschaft, bei der geringen Rolle der Landwirtschaft im ganzen des ökonomischen Lebens eher eine begreifliche Erscheinung. In Deutschland wird eine gewerkschaftliche Organisation, und sei sie noch so glänzend ausgebaut, wenn sie lediglich die Industriearbeiter umfßt und für das ganze große Heer der Landarbeiter unzugänglich ist, immer nur ein schwaches Teilbild der Lage des Proletariats im ganzen geben. Es wäre aber wiederum eine verhängnisvolle Illusion, zu glauben, dß die Zustände auf dem flachen Lande unveränderliche und unbewegliche seien, dß sowohl die unermüdliche Aufklärungsarbeit der Sozialdemokratie, wie noch mehr die ganze innere Klassenpolitik Deutschlands nicht beständig die äußere Passivität des Landarbeiters unterwühlen, und dß bei irgend einer größeren allgemeinen Klassenaktion des deutschen Industrieproletariats, zu welchem Zweck sie auch unternommen sei, nicht auch das ländliche Proletariat in Aufruhr kommt. Dies kann sich aber ganz naturgemäß nicht anders als zunächst in einem allgemeinen stürmischen ökonomischen Kampf, in gewaltigen Massenstreiks der Landarbeiter äußern.

      So verschiebt sich das Bild der angeblichen wirtschaftlichen Überlegenheit des deutschen Proletariats über das russische ganz bedeutend, wenn wir den Blick von der Tabelle der gewerkschaftlich organisierten Industrie- und Handwerksbranchen auf jene großen Gruppen des Proletariats richten, die ganz außerhalb des gewerkschaftlichen Kampfes stehen oder deren besondere wirtschaftliche Lage sich nicht in den engen Rahmen des alltäglichen gewerkschaftlichen Kleinkriegs hineinzwängen läßt. Wir sehen dann ein gewaltiges Gebiet nach dem anderen, wo die Zuspitzung der Gegensätze die äußerste Grenze erreicht hat, wo Zündstoff in Hülle und Fülle aufgehäuft ist, wo sehr viel »russischer Absolutismus« in nacktester Form steckt und wo wirtschaftlich die allerelementarsten Abrechnungen mit dem Kapital erst nachzuholen sind.

      Alle diese alten Rechnungen würden dann bei einer allgemeinen politischen Massenaktion des Proletariats unvermeidlich dem herrschenden System präsentiert werden. Eine künstlich arrangierte einmalige Demonstration des städtischen Proletariats, eine bloße aus Disziplin und nach dem Taktstock eines Parteivorstandes ausgeführte Massenstreikaktion könnte freilich die breiteren Volksschichten kühl und gleichgültig lassen. Allein eine wirkliche, aus revolutionärer Situation geborene, kräftige und rücksichtslose Kampfaktion des Industrieproletariats müßte sicher auf tiefer liegende Schichten zurückwirken und gerade alle diejenigen, die in normalen ruhigen Zeiten abseits des gewerkschaftlichen Tageskampfes stehen, in einen stürmischen allgemeinen ökonomischen Kampf mitreißen.

      Kommen wir aber auch auf die organisierten Vordertruppen des deutschen Industrieproletariats zurück und halten uns anderseits die heute von der russischen Arbeiterschaft verfochtenen Ziele des ökonomischen Kampfes vor die Augen, so finden wir durchaus nicht, dß es Bestrebungen sind, auf die die deutschen ältesten Gewerkschaften Grund hätten, wie auf ausgetretene Kinderschuhe über die Achsel zu schauen. So ist die wichtigste allgemeine Forderung der russischen Streiks seit dem 22. Januar 1905, der Achtstundentag, gewiß kein überwundener Standpunkt für das deutsche Proletariat, vielmehr in den allermeisten Fällen ein schönes fernes Ideal. Dasselbe trifft auf den Kampf mit dem »Hausherrnstandpunkt« zu, auf den Kampf um die Einführung der Arbeiterausschüsse in allen Fabriken, um die Abschaffung der Akkordarbeit, um die Abschaffung der Heimarbeit im Handwerk, um völlige Durchführung der Sonntagsruhe, um Anerkennung des Koalitionsrechts. Ja, bei näherem Zusehen sind sämtliche ökonomischen Kampfobjekte des russischen Proletariats in der jetzigen Revolution auch für das deutsche Proletariat höchst aktuell und berühren lauter wunde Stellen des Arbeiterdaseins.

      Daraus ergibt sich vor allem, dß der reine politische Massenstreik, mit dem man vorzugsweise operiert, auch für Deutschland ein bloßes lebloses theoretisches Schema ist. Werden die Massenstreiks aus einer starken revolutionären Gärung sich auf natürlichem Wege als ein entschlossener politischer Kampf der städtischen Arbeiterschaft ergeben, so werden sie ebenso natürlich, genau wie in Rußland, in eine ganze Periode elementarer ökonomischer Kämpfe umschlagen. Die Befürchtungen also der Gewerkschaftsführer, als könnte der Kampf um die ökonomischen Interessen in einer Periode stürmischer politischer Kämpfe, in einer Periode der Massenstreiks, einfach auf die Seite geschoben und erdrückt werden, beruhen auf einer ganz in der Luft schwebenden schulmäßigen Vorstellung von dem Gang der Dinge. Eine revolutionäre Periode würde vielmehr auch in Deutschland den Charakter des gewerkschaftlichen Kampfes ändern und ihn dermßen potenzieren, dß der heutige Guerillakrieg der Gewerkschaften dagegen ein Kinderspiel sein wird. Und anderseits würde aus diesem elementaren ökonomischen Massenstreikgewitter auch der politische Kampf immer wieder neue Anstöße und frische Kräfte schöpfen. Die Wechselwirkung zwischen ökonomischem und politischem Kampf, die die innere Triebfeder der heutigen Massenstreiks in Rußland und zugleich sozusagen den regulierenden Mechanismus der revolutionären Aktion des Proletariats bildet, würde sich ebenso naturgemäß auch in Deutschland aus den Verhältnissen selbst ergeben.

      VI

       Inhaltsverzeichnis

      Im Zusammenhang damit bekommt auch die Frage von der Organisation in ihrem Verhältnis zum Problem des Massenstreiks in Deutschland ein wesentlich anderes Gesicht.

      Die Stellung mancher Gewerkschaftsführer zu der Frage erschöpft sich gewöhnlich in der Behauptung: »Wir sind noch nicht stark genug, um eine so gewagte Kraftprobe wie einen Massenstreik zu riskieren.« Nun ist dieser Standpunkt insofern ein unhaltbarer, weil es eine unlösbare Aufgabe ist, auf dem Wege einer ruhigen, zahlenmäßigen Berechnung festzustellen, wann das Proletariat zu irgend einem Kampfe »stark genug sei«. Vor 30 Jahren zählten die deutschen Gewerkschaften 50 000 Mitglieder. Das war offenbar eine Zahl, bei der, nach dem obigen Mßstab, an einen Massenstreik nicht zu denken war. Nach weiteren 15 Jahren waren die Gewerkschaften viermal so stark und zählten 237 000 Mitglieder. Wenn man jedoch damals die heutigen Gewerkschaftsführer gefragt hätte, ob nun die Organisation des Proletariats zu einem Massenstreik reif wäre, so hätten sie sicher geantwortet, dß dies bei weitem nicht der Fall sei und dß die gewerkschaftlich Organisierten erst nach Millionen zählen müßten. Heute gehen die organisierten Gewerkschaftsmitglieder bereits in die zweite Million,

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