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Tages ein Wissen meint, das sich seiner Motive, Gründe und Bedingungen, mithin auch der Grenzen seiner Reichweite und seiner Nützlichkeit bewusst ist; ein Wissen, das zwischen schöner Fülle und schmerzhaftem Mangel ausgespannt bleibt. Ein solcher, auch theologisch seit jeher zu verlangender Wissensbegriff gehört ganz ohne Zweifel in die Genealogie des neuzeitlichen Begriffs der Bildung, der den genannten Merkmalen von Wissen das Merkmal der Selbstreflexivität des Subjekts von Wissen hinzugefügt hat2 – Bildung ist im Deutschen m.E. nach wie vor der vollständigste Begriff von Wissen. Allerdings kompliziert die Trias Wissen – Verstehen – Bildung die gestellte Frage, was das Christentum in der und für die europäische Wissenskultur bedeute.

      Denn das Christentum war und ist nicht nur seinerseits eine Wissenskultur, sondern bildete über Jahrhunderte hin die spezifische Form der europäischen Wissenskultur. Man kann daher die Geschichte des Christentums auch als eine dynamische Wissenskulturgeschichte erzählen, eine Geschichte voll von stupenden Erweiterungen des Wissens, von Erschließung neuer Wissensquellen, Institutionen des Lernens und der Lesefähigkeit von mehr und mehr Menschen. In dieser Meistererzählung der fortschreitenden Bildungsgeschichte des christlichen Abendlandes spielen Kirchen, Klöster, akademische Gymnasien, Stadtschulen und Universitäten, spielen Bildungsinitiativen wie der Humanismus, die Reformation, der Jesuitenorden und die fromme Aufklärung glanzvolle Rollen. Erst in jüngster Zeit greift diese Erzählung auch weniger elegante Nachrichten von den moralischen und religiösen Kosten der christlichen Bildungsgeschichte auf, so dass sie auseinandertritt in stark kontrastierende Differenzerzählungen. Nicht zufällig sind die neueren Großerzählungen fokussiert auf den ästhetischen Aspekt, auf Musik und vor allem bildende Kunst, die sich der ›hochkulturellen‹ Produktivität des Christentums verdanken.

      Die Faszination des Ästhetischen kann jedoch die Frage nicht zum Verschwinden bringen, ob sich eine christlich perspektivierte Wissenskulturgeschichte in die aktuelle Wissenskultur Europas kontinuierlich oder auch nur als Kontrast fortschreiben lässt. Auch wenn man die obsolet gewordene Annahme eines linearen Fortschritts von Wissenskultur revidiert durch die einer spannungsvollen Dialektik, kann man das Christentum seit dem Ende des Corpus Christianum und seiner Symmetrie von christlicher Religion und Gesellschaft nicht mehr als erstbestimmenden wissenskulturellen Akteur ansehen. Dies schon deshalb nicht, weil seine Institutionen, konfessionelle, rechts- und lehrförmig verfasste Kirchen, nicht als solche das Christentum verkörpern, auch nicht die christliche Wissenskultur, die vielmehr auf den Schultern vieler und auch sehr eigensinniger Akteure steht. Überdies lassen sich die vielen und heterogenen europäischen Wissenskulturen keineswegs als Spezies einem substantiellen Genus »europäische Wissenskultur« zuordnen. Sie bilden materiell und sogar methodisch eine durch nationale, juridische, ökonomische, mediale, auch religiöse Kontexte und Logiken regionalisierte Pluralität; ihr analogietragendes Gemeinsames wird wohl am besten mit Ludwig Wittgensteins Terminus der »Familienähnlichkeit« beschrieben. Ohne normative Homogenitätsannahmen lässt sich erfolgreicher nach Wechselwirkungen und Resonanzen zwischen diesen Wissenskulturen fragen. Übrigens muss man dazu viel, aber nicht alles wissen, wie das wohl auch der Vorstand unserer Wissenschaftlichen Gesellschaft meinte, als er mir den Blick auf Historiographie, Philologie, Philosophie und Recht empfahl, aber Politik, Ökonomie oder Pädagogik nicht erwähnte. Die Logik dieser Aufteilung könnte man noch diskutieren …

      So möchte ich nicht einzelne Kultursphären exemplarisch oder in- oder auch abduzierend in Betracht ziehen; ich versuche mich auch nicht an einer allgemeinen Kulturtheorie auf der Basis einer theologisch inspirierten scientia generalis, so sehr deren neueste Fassung zur passionierten Debatte verlockt. Ich frage vielmehr nach mehrerenorts ähnlichen strukturellen Herausforderungen und gehe dabei von der Hypothese aus, dass moderne Wissenskulturen die Daten, die sie als quantitative im Übermaß zur Verfügung haben, auch in qualitativen Kategorien verstehen müssen – dann jedenfalls, wenn die (nur methodisch abstrakten) Subjekte des Wissens ihre Existenz in lebensweltlichen Situationen und Konstellationen mitwissen. Und das müssen sie leisten, wenn sie urteilsfähige Distanz zum Gewussten gewinnen und ihr Wissen in orientierungspraktischer Absicht artikulieren und kommunizieren wollen. Wegen dieser bildungsaffinen Nötigung habe ich das bekannte Zitat aus der Apostelgeschichte (8,31) als Überschrift gewählt; unterstellt natürlich, dass »Lesen« sich auf alle indexikalischen, ikonischen und symbolischen Zeichen erstreckt, die uns unsere Welt zu verstehen geben.

      Sieht man von szientistischen oder neoliberalen Attacken gegen angeblichen Bildungsluxus ab, so negieren die aktuellen hermeneutischen und wissenschaftstheoretischen Debatten keineswegs den elementaren Sachverhalt, dass menschliches Wissen stets im Kontext von Verstehen erworben und gebraucht wird, ferner dass Verstehen stets ein Sich-Verstehen und stets auch ein Sich-Verstehen-auf einschließt. Dies Verstehen expliziten und impliziten Wissens ist ein Moment aller Bildungsprozesse; verstandenes Wissen fällt daher nicht auseinander in Wissensgläubigkeit und Wissensverachtung. Diese fatale Alternative zu vermeiden, wäre nicht das geringste Ergebnis der tätigen Bildungsverantwortung des Christentums in der europäischen Wissenskultur.

       2. Die christliche Pflege des religionskulturellen Gedächtnisses

      Niemand wird in Abrede stellen, dass das Christentum als religiöse Praxis und theologische Reflexion, als implizites und als explizites Wissen die Wissenskulturen Europas als eines Raumes geteilten Wissens geschichtlich mitgestaltet hat. Man kann freilich meinen, dass diese Aussage trivial sei wegen der langen kulturellen Dominanz der christlichen Kirchen, erst mit dem Ende dieser Dominanz könne sie zur gehaltvollen Feststellung werden. Dieser Meinung möchte ich mit zwei Argumenten widersprechen. Eines betrifft die Eigenart des kollektiven Gedächtnisses im Christentum (2.), das andere die Eigenart der kulturellen Präsenz christlich geprägten Wissens und Handelns (3.).

      Nicht strittig dürfte sein, dass das Christentum in allen seinen Praxisformen und in seinen Theologien das religionskulturelle Gedächtnis Europas aufgebaut, durchgängig bearbeitet und mit ihm dieser Region eines ihrer definierenden Merkmale gegeben hat. Diese Arbeit ist freilich selbstverständlich für eine Glaubensgemeinschaft, die auf Erzählungen gründet und die auch im dichtesten Moment göttlicher Präsenz sich an Verheißung erinnert; trotzdem ist sie nicht trivial. Denn, in der Binnen- wie in der Außenperspektive unstrittig, unterschied sich der christliche Weise des Glaubens und Lebens stets auch konstitutiv von den intellektuellen, ethischen und politischen Kulturen, in denen er existierte, verband sich aber zugleich, und zwar aus inneren Gründen seiner Gottesbeziehung, in dieser Weltzeit mit der (geschaffenen) Welt. Auch wenn er in seiner Geschichte die jeweils eigens zu bestimmende Korrelation sehr unterschiedlich realisierte, entwickelte er dennoch langfristig wirksame kulturstrukturelle Differenzierungen. Er prägte Kultur, so könnte man vielleicht sagen, als das Ensemble von »Unterscheidungstexturen«.3 Solche christlich initiierten, aber dann kulturell generalisierten Unterscheidungstexturen sind etwa die von Glauben und Wissen in der intellektuellen, die von Naturrecht und christlichem Ethos in der moralischen und die von religiöser Autorität und gesellschaftlicher Sanktionsmacht in der politischen Kultur.

      Der christlichen Wissenskultur ist es daher wesentlich, ins eigene Wissen auch anderes Wissen als anderes zu inkorporieren: etwa jüdisches religiöses und weisheitliches Wissen, griechisch-philosophisches Wissen und römisch-juridisches Wissen. Die Theologie bezog und bezieht sich dem entsprechend immer auf den biblischen und christlichen interpretierten Kanon und zugleich, und zwar iterierend, auf heterogenes Wissen. Sie nahm und nimmt immer zugleich eine Binnenperspektive auf sich selbst ein und nimmt Außenperspektiven auf sich wahr, die sie auf hermeneutisch unterschiedlichen Wegen in sich selbst zur Wirkung bringt. Das deshalb komplex sich entwickelnde christlich-religionskulturelle Gedächtnis konnte daher zeitweise die Rolle des gesamtkulturellen Gedächtnisses Europas einnehmen – allerdings um den Preis der Entschärfung der strukturell mitgeführten Differenz. Das war der Fall in den Jahrhunderten, in denen das christliche Glaubenswissen normativer Rahmen auch der auf Erfahrung und Vernunft basierenden Philosophie war; in dem also die Theologie bestimmte, was legitimerweise als philosophische Probleme gelten konnte, und überdies verbürgte, dass die Weltgeschichte einschließlich ihrer Denkgeschichte mit der biblischen Heilsgeschichte synchron verlief.

      Trotzdem wurde die

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