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      Raphael zog sich rasch an und verließ sein Zimmer. Er war bester Laune und fühlte sich wie neugeboren. In der Küche wartete die Mutter bereits mit dem Frühstück. Knut Harlander hockte vornübergebeugt und löffelte wie immer seinen Haferbrei.

      Raphael musste schmunzeln. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sein Vater frühmorgens jemals etwas anderes als diesen Brei gegessen hatte, den er schon als Kind gehasst hatte.

      »Schon so früh auf den Beinen«, grüßte ihn der Bauer. »Wie kommt’s?« Er schaute nur kurz auf und widmete sich dann wieder seiner Mahlzeit.

      »Guten Morgen, Raphael.« Seine Mutter schenkte ihm ein freundliches Lächeln und hieß ihn, sich an den Tisch zu setzen. Sie hatte für ihn ein kräftiges Frühstück zubereitet.

      »Ich möchte das schöne Wetter nutzen und rauf zum Gipfelkreuz«, erklärte er seinem Vater, während er Helga Harlander einen Kuss auf die Wange hauchte und dann ihrer Aufforderung nachkam.

      »Warum denn das?« Der Bauer blickte auf. »Hast nix Sinnvolleres zu tun?«

      »Iss, Knut!«, forderte Helga Harlander energisch. »Und lass mir den Bub in Ruh! Er ist erst ein paar Tage bei uns, und schon fängst du wieder an, ihn zu kritisieren. Muss das sein?«

      Ihr Mann antwortete nicht. Er widmete sich erneut seinem Haferbrei und leerte den Teller. Sekunden später stand er auf und verließ die Küche ohne einen Gruß.

      Raphael fühlte sich unangenehm berührt. Er kannte diese Zeremonie, doch das alles war viele Jahre her. Das alles hatte er in Kinder- und Jugendjahren täglich erlebt und nie begriffen oder akzeptiert.

      »Er ist noch immer so grantig wie früher«, stellte er fest. »Ich glaub’, er wird sich nie ändern.«

      »Ach, lass gut sein«, meinte Helga Harlander und setzte sich mit einer Tasse Kaffe neben ihn. »Ändern kannst du ihn so oder so net mehr. Er ist und bleibt halt ein Grantier.«

      Der junge Mann wunderte sich gestern wie heute, wie es seine Mutter überhaupt so lange mit diesem Menschen ausgehalten hatte. Er hatte es immer gescheut, sie jemals danach zu fragen.

      »Triffst dich mit der Johanne?«, fragte sie wie aus heiterem Himmel.

      »Wie kommst du darauf?«, erwiderte er und hielt inne.

      Helga Harlander schmunzelte.

      »Leugnen hilft dir nix, mein Junge«, sagte sie und strich ihm über das glatte Haar. »Einer Mutter machst du nix vor. Also, hab’ ich recht?«

      Raphael sah keine Veranlassung, seiner Mutter etwas vorzumachen oder sie gar zu belügen. Stets hatte sie in all den Jahren zu ihm gehalten und ihn gegen den strengen Vater verteidigt und oft auch beschützt. Es gab niemanden anderen auf der Welt, zu dem er mehr Vertrauen hatte.

      »Ich kann’s net leugnen«, gestand er. »Ich mag die Johanne noch immer so wie früher. Auch wenn ich’s nie ausgesprochen hab’ wegen der Streithähne. Jetzt aber bin ich alt genug, um selbst zu wissen, was ich will.«

      In diesem Augenblick begriff Helga Harlander, dass ihr Sohn nicht mehr der schüchterne Bub von früher war, der in die Stadt gegangen war, um der Härte seines Vaters und dem ewigen Nachbarzwist zu entgehen.

      »Du hast die Johanne schon früher liebgehabt?«, fragte sie ungläubig. »Aber davon hast du mir nie etwas erzählt, Bub. Warum net?«

      Raphael legte seinen Arm um die Schultern seiner Mutter und schaute sie offen an.

      »Weil ich net wollte, dass du dich meinetwegen mit dem Vater streitest und wir alle unglücklich werden«, erklärte er. »Die Jahre waren hart genug, und ich hätt’ dir nur wehgetan, weil ich weiß, dass du als die beste Mutter dieser Welt um meine Liebe gekämpft hättest. Aber es wäre sinnlos gewesen, denn wir beide wissen doch, wie arg sich der Vater und der Giefner hassen. Also hab’ ich‘s für mich behalten und auch der Johanne nie etwas gesagt.«

      Helga Harlander musste schlucken. Die Worte ihres Sohnes hatte das Tiefste ihrer Seele berührt. Ihr wurde einmal mehr klar, was für einen wunderbaren Sohn sie hatte. Für ihn würde sie durchs Feuer gehen - und er für sie.

      Sie hauchte ihm nur einen Kuss auf die Stirn und strich ihm wieder über das braune Haar.

      »Ich wusste ja immer, dass du ein schlauer Bursche bist«, meinte sie stolz. »Und vor allen Dingen ein gescheiter Sohn. Iss dein Frühstück, damit dir unterwegs net schlecht wird, wenn du rauf zum Gipfel kraxelst! Du wirst schon wissen, was richtig für dich ist. Und grüß mir die Johanne recht schön von mir, gell?«

      »Aber sicher doch, Mutter«, erwiderte Raphael und erwiderte ihren Kuss, indem seine Lippen ihre Wangen fanden.

      Während Helga Harlander aufstand und sich dem Abwasch widmete, genoss Raphael das reichliche Frühstück. Wie immer hatte seine Mutter mehr hergerichtet, als er essen konnte.

      Er hatte keine Eile. Trotzdem merkte er, dass er immer häufiger zur alten Wanduhr schaute, als befürchte er, es könne irgendwann zu spät sein, rechtzeitig am Treffpunkt zu sein.

      Irgendwie fühlte er sich irritiert, während er den letzten Happen Spiegelei aß und mit einem Schluck Kaffee hinunterspülte. Es war lange her, dass er sich derart euphorisch gefühlt hatte.

      Vor drei Jahren in München hatte er dieses Empfinden als letztes Mal gehabt. Sie hieß Claudia, war Studentin der Philosophie und ein wunderbares Geschöpf. Sie war die einzige Frau gewesen, die zeitweilig den Gedanken an Johanne hatte verblassen lassen. Er hatte geglaubt, sie zu lieben, doch das Erwachen war um so schrecklicher gewesen. Ihre Beziehung hätte wegen ihrer exzentrischen Lebensvorstellung nicht lange gehalten. Die Zuneigung zu Johanne aber war danach umso stärker geworden.

      Plötzlich schrak Raphael auf. Er hatte vor sich hingeträumt und beinahe die Zeit vergessen.

      »Ich muss los!« Er wischte sich den Mund mit einer Serviette ab, stand auf und verabschiedete sich mit einem Kuss von seiner Mutter.

      Eine Minute später trat er hinaus in den gleißenden Sonnenschein eines jungen Morgens.

      Helga Harlander schaute ihrem Sohn lange durch das Fenster nach. Ihr Gedanken schweiften ab in die Vergangenheit, wo der Grundstein für den ewig scheinenden Zwist zwischen den Harlanders und den Giefners lag.

      Ein sinnloser Zwist, der längst seine Bedeutung verloren hatte. Zwei alte Sturköpfe aber führten ihn fort, als wären sie verpflichtet, den Fehlern ihrer Väter und Großväter nachzueifern.

      Nein, sie hatte lange genug zugeschaut. Sie wusste nur zu gut, dass auch Frieda Giefner, Johannes Mutter, ähnlich dachte. Das Glück der Kinder ging vor. Dafür würde sie kämpfen und für nichts auf der Welt zurückweichen, wenn es nötig war.

      5

      Johanne konnte sich nicht entsinnen, jemals in ihrem Leben derart nervös gewesen zu sein. Schon eine halbe Stunde vor ihrer Verabredung war sie am Treffpunkt. Die junge Frau war zwar unruhig, doch innerlich hatte sich auch so etwas wie Genugtuung breitgemacht. Der Vater hatte keinerlei Verdacht geschöpft, da ihre Aufgabe, dem Wirt vom Berggasthof ein paar Flaschen hinaufzubringen, seit Tagen feststand, und auch die Mutter schien ahnungslos zu sein.

      Johanne musste keine Furcht haben, dass man sie vielleicht vom Hof aus beobachten könnte. Sie hatte es sich hinter der Wegbiegung auf einem Felsbrocken gemütlich gemacht. Sie genoss die Wärme der Morgensonne. Zu ihrem Glück fehlte nur noch Raphael.

      Würde er wirklich kommen?

      Obwohl sie wusste, dass es noch zu früh war, wurde sie mit jeder Minute unruhiger. Immer häufiger suchten ihre Augen den Waldrand ab. Kam er vielleicht doch über den Weg, der immer noch einer Morastrinne glich? Nein, gewiss nahm er den schmalen Pfad durch den Lärchenwald, den sie am Vortag gegangen waren.

      Ihre Ungeduld wuchs. Sie schaute auf die Uhr. Es war kurz nach acht Uhr.

      In

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