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es schmerzte.

      Langsam, als würde sich alles um sie herum in Zeitlupe bewegen, kam sie dem Bergbauernhof näher. Längst war der steile Weg dorthin zu einer Morastmasse geworden, die an ihren Schuhen klebte.

      Endlich war es geschafft. Mit letzter Kraft stieg sie die drei Stufen zur überdachten Haustür hinauf. Eine Sturmbö packte sie und schleuderte sie gegen das Haus. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihre Schulter, als sie gegen die Tür prallte. Sie schrie auf und konnte die Tränen nicht zurückhalten, so weh tat es.

      Ihre Ankunft war nicht unentdeckt geblieben, obwohl das Heulen des Sturmes und das Krachen des Donners ringsum alles zu übertönen schien. Eine kräftige Frau mit ernstem Blick öffnete die Tür. Sie erschrak, als sie Johanne erkannte.

      »Um Gottes willen, Kind«, rief sie entsetzt. »Wie kommst du hierher?«

      Statt auf eine Antwort zu warten, packte sie die junge Frau am Oberarm und zog sie ins Haus. Sie musste alle Kraft benutzen, um die Tür wieder zu schließen. Der Sturm versuchte alles, um es mit seinen Böen zu verhindern.

      »Ja, Herrschaftszeit’n«, donnerte eine mürrische Stimme. »Warum reißt du bei diesem Wetter die Tür auf?«

      Knut Harlander war gerade in diesem Moment in den Hausflur getreten. Der Wind furchte durch sein lichtes Haar und zerrte an seiner Jacke.

      Johanne und er standen sich von einer Sekunde zur anderen Auge in Auge.

      Seit vielen Jahren waren die Giefners und die Harlanders Nachbarn, aber alles andere als Freunde. Seit einem Zwist ihrer Väter vor mehr als vierzig Jahren würdigten sich besonders die Männer keines Blickes.

      »Du?«, fragte Knut Harlander mürrisch und stemmte die Fäuste in die Seite. Die steilen Falten zwischen seinen Augen wurden noch tiefer. »Was treibst du dich bei einem solchen Sauwetter in der Gegend rum?«

      Helga Harlander schob sich zwischen ihren Mann und die junge Frau, die völlig außer Atem war.

      »Schluss jetzt!«, herrschte sie ihren Mann an. »Siehst du net, wie erschöpft das Madl ist, Knut? Hol lieber ein paar Decken, bevor sich die Johanne den Tod holt. Es ist ja völlig durchnässt, das arme Ding.«

      Brummend trollte sich der Hausherr und knurrte etwas in sich hinein. Seiner resoluten Frau zu widersprechen, hatte keinen Sinn. Das bedeutete nur Streit.

      »So, meine Kleine«, bestimmte Helga Harlander mütterlich und brachte Johanne in die warme Küche. »Jetzt hockst du dich erst einmal an den Ofen und wärmst dich auf. Ich schau rasch nach, ob ich etwas Trockenes für dich finde.«

      Zitternd bedankte sich die junge Frau und ließ sich auf der Ofenbank nieder. Erst jetzt spürte sie, wie erschöpft und am Ende ihrer Kraft sie war.

      Die Hausherrin kramte in einer Truhe, die in der Ecke neben einem alten Schrank stand. Wenig später legte sie frische Sachen neben Johanne.

      »Die Hose und der Pullover werden zwar etwas groß sein, doch ich denke, es wird für den Notfall gehen«, bemerkte sie und machte sich daran, Johannes Haare mit einem Frottiertuch trockenzureiben.

      Die Tür wurde geöffnet, und Knut Harlander trat ein. Wortlos legte er die Decke auf einen der Stühle und verließ das Zimmer ohne jeden Gruß.

      »Mach dir nix draus!«, beruhigte.Helga Harlander lächelnd. »Er ist halt ein griesgrämiger Bursch, der Knut. Aber er meint’s net so. Komm, zieh die nassen Sachen aus! Ich mach dir inzwischen einen heißen Tee mit Honig. Das wird dich wieder auf die Beine bringen.«

      Sie machte sich sofort an die Arbeit und setzte heißes Wasser auf den schmiedeeisernen Herd, der neben dem Kachelofen das ganze Zimmer beherrschte. Johanne zögerte noch ein Weilchen. Sie fühlte sich verunsichert. Jeden Moment konnte Harlander zurückkehren. Sie wagte nicht, sich auszuziehen.

      Helga Harlander spürte, was in der jungen Frau vor sich ging und schaute sich um.

      »Geh dort in die kleine Kammer!«, schlug sie vor. »Da kannst du dich ohne Scheu umziehen.«

      Johanne bedankte sich. Zwei Minuten später saß sie wieder mit dem Rücken am warmen Kachelofen. Langsam fühlte sie sich wohler. Die Kälte wich aus ihrem Körper.

      »Das war ganz schön leichtsinnig, bei einem solchen Wetter draußen zu sein«, meinte die Hausherrin und reichte ihr eine heiße Tasse Tee. »Du hättest tot sein können.«

      Johanne nickte.

      »Als ich in Hallgau war, hab’ ich mich mit der Flamminger Erna verplaudert«, gestand sie. »Als das Wetter losbrach, war ich schon unten am Krähenhang und wollt’ net mehr zurück. Ich dacht’, ich würde es noch bis zum Vater und zur Mutter schaffen.«

      Helga Harlander lächelte gütig und ermunterte sie, den Tee zu trinken.

      Die Tür öffnete sich wieder. Johanne hielt inne und fürchtete, Knut Harlander könne zurückkommen, um seine üble Laune an ihr auszulassen. Sie wusste nur zu gut, wie verbohrt und stur er war. Besonders, wenn es um einen Giefner ging. Darin bildete sie keine Ausnahme.

      Sie sah sich getäuscht.

      Der Mann, der auftauchte und ihr ein freundliches Lächeln entgegenschickte, war jung und kräftig. Das braune Haar trug er zurückgekämmt.

      »Raphael«, staunte Johanne. »Du bist hier?«

      »Er ist erst vor zwei Tagen angekommen«, erklärte Helga Harlander. »Bisher hat er sich nur Zeit genommen, mit dem Vater zu streiten.«

      »Aber Mutter«, meinte der junge Mann mahnend und reichte Johanne die Hand. Sie ergriff sie und merkte, wie ihr Herz ein wenig schneller zu schlagen begann. »Wie geht’s dir?«

      »Gut«, sagte sie, obwohl ihr noch die Knie zitterten. »Bist du hier im Urlaub?«

      »Eigentlich nicht«, erwiderte Raphael bestens gelaunt. Er hatte sich neben die junge Frau gesetzt. »In nächster Zeit werde ich wohl öfters vorbeischauen.« Ohne Scheu schaute er ihr ins Gesicht. Er machte keinen Hehl daraus, wie sympathisch er sie fand.

      Es war ein paar Jahre her, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Früher hatten sie gemeinsam die Schulbank in Hallgau gedrückt und fast täglich den gleichen Weg ins Tal zurückgelegt. Dann war Raphael nach Berlingen aufs Gymnasium und später nach München auf die Universität gegangen. Dadurch hatten sie sich fast aus den Augen verloren.

      Das alles war schon lange her. Tief in ihrer Seele aber hatte Johanne ihn immer gemocht und sich später sogar in ihn verliebt. Niemals jedoch hatte sie einer einzigen Menschenseele davon erzählt. Der Zwist zwischen den beiden Höfen war zu schlimm und ihre Schüchternheit zu groß gewesen, um sich von irgendjemand ins Herz schauen zu lassen.

      »Wie lange haben wir uns net mehr gesehen?«, fragte Raphael.

      »Vier Jahre und zwei Monate.« Viel zu schnell kam die Antwort über ihre Lippen, um nicht auffallend zu sein. Sie merkte, wie sie errötete. In diesem Augenblick fühlte sie sich wie entblößt. Garantiert hatte Raphael gemerkt, dass sie ihn noch immer sehr mochte. Daran hatte sich in all den Jahren nichts geändert.

      »Du hast ein gutes Gedächtnis«, meinte der junge Mann lächelnd und ignorierte, dass Johanne den Blick senkte. Etwas Seltsames berührte ihn. In seinem Gehirn begann es zu arbeiten. Das ehemals kleine Mädchen mit den Sommersprossen und den blonden Zöpfen war eine sehr schöne Frau geworden. Das feuchte und zerzauste Haar und die viel zu große Kleidung konnten nicht darüber hinwegtäuschen.

      Johanne fühlte sich verunsichert. Rasch fragte sie, wie es ihm in den letzten Jahren ergangen sei und was er in beruflicher Hinsicht machte.

      »Ich bin bei einer Münchner Firma als Vermessungstechniker angestellt«, erzählte er. »In einer Woche muss ich rüber nach Bernstein, wo in zwei Jahren die Straße zwischen Sonnenberg und Krähenhorst durchführen soll. Du hast bestimmt davon gehört.«

      Johanne nickte, und Helga Harlander wurde ernst. Sie beide kannten dieses Thema

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