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Ich denke, aber ich bin mehr. Sharon Dirckx
Читать онлайн.Название Ich denke, aber ich bin mehr
Год выпуска 0
isbn 9783417269987
Автор произведения Sharon Dirckx
Жанр Документальная литература
Серия Institut für Glaube und Wissenschaft
Издательство Bookwire
Wir wissen heute aber auch, dass Veränderungen in unserem Denken auch Auswirkungen auf das Gehirn selbst haben. Früher glaubten Wissenschaftler, dass das Gehirn sich nicht verändern lasse, doch heute weiß man, dass es unglaublich »plastisch« ist in dem Sinne, dass es sich laufend verändert und im Laufe eines Menschenlebens neue Verbindungen und Wege schafft. Veränderungen im Gehirn beeinflussen unser Denken. Aber unser Denken, unser Lebensstil und unsere Gewohnheiten prägen auch die Art und Weise, wie unser Gehirn wächst und sich entwickelt.
DAS GEHIRN STUDIEREN
Schon früh wusste ich, dass ich Wissenschaftlerin werden wollte. In der Schule strengte ich mich an – vielleicht sogar ein wenig zu viel – und bereits in meiner frühen Teenagerzeit träumte ich davon zu promovieren. Nach meiner Schulzeit in Durham schrieb ich mich an der Universität in Bristol ein, wo ich Biochemie studierte.
Die Vorlesungen begeisterten mich, die Laborarbeit weniger. Damals war es in den Biochemielabors warm, oft lag der Geruch von Hefe in der Luft. Studierende in weißen Kitteln mischten, zentrifugierten und schüttelten exotische Gebräue, pipettierten winzige Mengen Flüssigkeit von einem Reagenzglas in das andere oder beobachteten besorgt, wie ihre Glasröhrchen ein langes heißes Wasserbad genossen. Es konnte Wochen, manchmal Monate dauern, bevor wir wussten, ob ein Experiment gelungen war. Und wenn nicht, mussten wir wieder ganz von vorn anfangen. Das war Mitte der 90er-Jahre. Seitdem hat sich eine Menge getan.
In Bristol hörte ich auch zum ersten Mal von Neuroimaging. Einige Freunde von mir, die Physik studierten und nur ein paar Räume weiter auf dem gleichen Flur arbeiteten, versuchten einer archaischen Maschine, die mehr oder weniger von Paketband zusammengehalten wurde, Ergebnisse zu entlocken. Sie benutzten dafür eine damals ganz neue Technologie, mit der sie in den Körper schauen konnten, ohne auch nur einen einzigen Schnitt zu machen: die Magnetresonanztomografie (MRT). Diese Technik fand ich hochinteressant, und so begann ich, zwei Jahre später an der Universität Cambridge meine Doktorarbeit zu diesem Thema zu schreiben. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie die vierjährige Tochter eines Wissenschaftlers uns dort an das Alleinstellungsmerkmal der MRT erinnerte: »Papa, tut es nicht weh, wenn man das Gehirn eines Menschen so aufschneidet?« Sie blickte auf einen Bildschirm, auf dem man den rotierenden Kopf eines Mannes sah, der förmlich gepellt wurde, sodass Schicht für Schicht des Inneren seines Gehirns sichtbar wurde. Tut das weh? Kein bisschen. Mit einer MRT bekommt man elektronische Scheibchen des Gehirns, keine echten.
Die Magnetresonanztomografie bietet die Möglichkeit, ins Innere des menschlichen Gehirns zu blicken.
Eine der aufregendsten Beiträge des Neuroimaging besteht darin, dass es Wissenschaftlern die Untersuchung des Gehirns gesunder Menschen ermöglicht. Zur Wende zum 20. Jahrhundert gab es nur eine Möglichkeit, einen Blick ins Gehirn zu werfen: indem man zum Skalpell griff und zu schneiden anfing. Auf diese Weise konnte man nur Menschen untersuchen, die eine so schreckliche oder auch unheilbare Krankheit hatten, dass sie bereit waren, alles zu versuchen; oder aber diejenigen, die von ihrer Krankheit bereits besiegt worden waren. Die Erfindung der bildgebenden Verfahren bedeutete, dass man nun gesunde und kranke Gehirne vergleichen konnte.
Spulen wir vor in die 90er-Jahre: Die funktionelle MRT (fMRT) stellte einen entscheidenden Entwicklungsschritt dar, weil wir uns jetzt nicht mehr nur eine Struktur in einer Reihe von unbewegten Bildern anschauen konnten, sondern auch Gehirnaktivität. Stellen Sie sich vor, Sie steigen auf einen Turm. Der anstrengende Aufstieg wird mit einer spektakulären Aussicht belohnt. Von oben fallen uns zunächst die großen, unbewegten und leicht zu erkennenden Strukturen ins Auge wie etwa Gebäude und Straßen. Doch dann bemerken wir auch, wie sich Fußgänger, Autos und Busse bewegen. Heute wird die MRT am häufigsten eingesetzt, um unbewegte Bilder vom Gehirn oder anderen Körperteilen zu liefern, wie etwa Knie- oder Schultergelenk. Im Gegensatz dazu misst die fMRT Bewegung innerhalb des Hirns, insbesondere Blutströme. Wenn ein Teil des Gehirns härter arbeitet, strömt mehr Blut, um diesen Teil mit Sauerstoff und Zucker zu versorgen. Die funktionelle MRT misst diesen Blutstrom und kann uns sagen, welcher Teil des Gehirns arbeitet. Diese Entwicklung der späten 1980er-Jahre sollte die Landschaft der Neurowissenschaft für die nächsten Jahrzehnte prägen – eine Landschaft, die wir noch heute erforschen.
Ich genoss das Vorrecht, elf Jahre in der fMRT-Forschung zu arbeiten, und habe mit einigen brillanten Neurowissenschaftlern zusammengearbeitet, die wichtige Beiträge zu diesem Forschungsfeld geliefert haben. Mittels fMRT haben wir untersucht, wie das Gehirn sich um einen Tumor herum neu organisieren oder von einer süchtig machenden Substanz verändert werden kann. Zu Anfang konzentrierte ich mich in meiner Forschung auf gesunde Freiwillige, später arbeitete ich auch mit Krebspatienten und Kokainabhängigen.
SIND WIR NUR UNSER GEHIRN?
Wenn ich an die Leiche im Sezierraum denke, die einmal eine lebendige, atmende Frau gewesen war, komme ich nicht um die Frage herum: »Was macht mich zu einer Person?« Viele Antworten werden uns heute angeboten. Die Mode- und Kosmetikindustrie sagt: »Du bist dein Körper.« Die Finanzwelt sagt mir vielleicht: »Du bist dein Einkommen.« Politiker sagen: »Du bist dein Einfluss.« Die Universität würde sagen: »Du bist, was du veröffentlichst.« In letzter Zeit hören wir von Neurowissenschaftlern: »Du bist dein Gehirn.« Einen Menschen zu verstehen, heißt, sein Gehirn zu verstehen. Das Gehirn zu verstehen, heißt, den Menschen zu verstehen.
Was sollen wir von dieser Auffassung halten? Wenn es stimmt, dass ich mein Gehirn bin, haben die Neurowissenschaften zu der fundamentalen Frage nach der menschlichen Identität etwas zu sagen. Für manche Menschen sind die Neurowissenschaften zu der Linse geworden, durch die sie alle Lebensbereiche betrachten und deuten. Man hat auf der Grundlage von Gehirnkartierungen Marketingentscheidungen, wirtschaftliche Entscheidungen und sogar juristische Entscheidungen getroffen. Statt jemanden nach seiner Meinung zu fragen, scannen wir sein Gehirn! Professor Raymond Tallis, pensionierter Krankenhausarzt und Neurowissenschaftler an der Universität Manchester, hat das einmal als »Neuromanie« bezeichnet.3 In den Neurowissenschaften wurden erstaunliche Entdeckungen gemacht, die uns zu einem besseren Verständnis des Gehirns verholfen haben, und wir können Krankheiten heute besser diagnostizieren und heilen. Sind wir aber auch von der Vorstellung besessen, dass das jede Frage beantworten könnte, die wir haben?
WO HAT DAS ANGEFANGEN?
Bevor wir uns mit der eigentlichen Frage beschäftigen, ist es hilfreich zu verstehen, wo diese Auffassung überhaupt herkommt. Auf den ersten Blick wirkt die Meinung, dass man mit dem Gehirn alles erklären kann, so, als sei sie zusammen mit den Neurowissenschaften aufgekommen. Man kann diese Auffassung jedoch bis ins antike Griechenland zurückverfolgen, und zwar insbesondere in das 5. Jahrhundert v.Chr. Den Arzt Hippokrates (460–377 v. Chr.) kennt man vor allem wegen des hippokratischen Eids, den man mit den Worten »Schade niemandem« zusammenfassen könnte. Doch er beschäftigte sich auch mit Epilepsie und schrieb darüber. In seiner Schrift Über die heilige Krankheit merkte er an (Hervorhebung der Autorin):
Es müssen aber die Menschen wissen, dass für uns die Lüste und Freuden und Lachen und Schmerzen aus keiner anderen Ursache als von dort [dem Gehirn] ihren Ursprung nehmen und ebenso Betrübnis und Ärger und Missstimmungen und Jammer.4
Der springende Punkt für Hippokrates war, dass Epilepsie nicht von Dämonen verursacht wird, wie man zu dieser Zeit gemeinhin dachte, sondern es sich um eine Gehirnkrankheit handelt. Trotzdem hat der Ausdruck »aus keiner anderen Ursache als von dort [dem Gehirn]« den immer populärer werdenden modernen Standpunkt geprägt, dass Gehirn und Geist gleichzusetzen sind.
In der akademischen Welt kam dieser Standpunkt in der jüngeren Vergangenheit zum