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Die wilden Jahre. Will Berthold
Читать онлайн.Название Die wilden Jahre
Год выпуска 0
isbn 9788711727157
Автор произведения Will Berthold
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Die Luft war lind. Die Sonne hatte zwischen den Mauern der Stadt die Wärme gespeichert. Der Frühling lockte die Menschen auf die Straßen, in die Parks, in die Grünanlagen, aus der Stadt hinaus. Die Passanten gingen paarweise oder zu dritt; die Schuttberge versteckten ihre häßlichen Fassaden hinter wucherndem Grün. Die Knospen öffneten sich wie Fäuste, die nie mehr drohen wollten.
Eine Horde Jungen scherzte mit amerikanischen Soldaten. Die Alten wirkten jünger, die Müden frischer, die Hungrigen satter. Die Nachbarn mochten sich wieder, und irgendwo im Osten tönte feierlich eine Glocke. Die Menschen, die sie hörten, blieben stehen und sahen sehnsüchtig nach oben, als läute diese einsame Glocke den Frieden ein.
Die Mädchen lächelten. Niemand sprach mehr vom Krieg. Die Fenster der ausgebrannten Ruinen sahen nicht mehr aus wie tote Augenhöhlen, sondern waren ganz gewöhnliche Löcher in der Mauer, die mit Mörtel, Holz und Glas wieder zu Fenstern gemacht werden konnten.
Martin ging allein und ziellos durch die Straßen. Er merkte heute zum erstenmal nach Jahren hinter Gefängnismauern und Stacheldraht, daß er einsam war, ein Fremder zwischen fremden Wänden, ein Heimkehrer ohne Zuhause, ein Mann, der gern seine Stimme gehört hätte, aber denken mußte, weil er nicht sprechen konnte.
Er traf seinen früheren Mitschüler Rothauch, mit wenig Freude, da er ihn schön damals nicht hatte leiden können. Als er jetzt dessen schlaffe Hand spürte, wußte er, daß sich daran nichts geändert hatte.
»Du?« sagte Rothauch. »Du lebst noch, Ritt?«
»Zweifelst du daran?« fragte Martin lachend.
»Du bist schon der vierte«, sagte er, »aber Maier zählt nur halb, beide Beine ab, der arme Hund – Bömmelmann ist noch in russischer Gefangenschaft.« Er schichtete Schicksale aufeinander wie Ziegelsteine. »Sollte er wirklich nach Hause kommen, dann hat unsere Klasse fünf Überlebende. Diese Quote ist nicht einmal so schlecht. Siehst ja gut aus«, stellte Rothauch fest, »hast dich rechtzeitig klein gemacht? Schöne Scheiße, was?«
»Sicher.«
»Der Zusammenbruch. Wer hätte das gedacht? Wir hätten uns vorsehen sollen. Wir waren eben Idealisten. Ich kämpfe noch um meine Zulassung zum Weiterstudium, machen mir Schwierigkeiten, weil ich bei der SS war.« Er sprach mit gedämpftem Stolz. »Als ob es einen von uns gäbe, der nirgends dabei war. Du warst doch sicher auch in der Partei – oder?« Rothauch lächelte wie ein Fuchs.
»Nein.«
»Ist ja prima!« Das Lächeln in Rothauchs Gesicht wurde starr. »Dann könntest du mir ja für meine Entnazifizierung so einen Wisch ausstellen?«
»Vielleicht.«
»Tu nicht so, alter Junge.« Rothauch lachte gepreßt und klopfte ihm auf die Schulter. »Du wirst doch nicht auch so einer sein. Man kann seine Wunder erleben heute: stell dir vor, der Lessing ist da.« Er sprach flink, geschwätzig. »Kennst du doch noch: Felix Lessing, der Emigrant. Ist heute amerikanischer Captain in München.«
»Was sagst du da?« fragte Martin erregt.
»Ich traf ihn auf der Straße. Ist eine große Nummer bei der Militärregierung. Ein Wort von ihm, und ich wäre aus allem.«
»Felix Lessing?« fragte Martin noch einmal. Seine Backenmuskeln spannten sich.
»Natürlich. Ach, du warst ja immer befreundet mit ihm – aber bilde dir nichts ein, der strotzt vor Arroganz. Weißt ja, wie diese Kerle sind, wenn sie Oberwasser haben.« Seine Schneidezähne grinsten gelb. »Hab’ sie auch schon anders gesehen, im Osten. Zuerst tat er so, als kenne er mich nicht, und dann ließ er mich durch seine Sekretärin ’rauswerfen. Ich sag’ dir, Leute kannst du kennenlernen heute. Dabei war ich noch neunzehnhundertdreiunddreißig auf seiner Geburtstagsfeier. Stelle dir vor, ich als HJ-Führer – bei einem …!«
Felix in Deutschland? begriff Martin langsam. Bei der Militärregierung? In München?
Er ließ den früheren Mitschüler auf der Straße stehen.
Der Mann sah ihm mit giftigem Blick nach.
Auch so ein Schwein, sagten seine Augen.
XI
Die Militärregierung residierte am Stadtrand; der Volksmund nannte die Straße, die zu ihr führte, die Bücklingsallee. In Scharen pilgerten Supplikanten zu den weiträumigen Gebäuden wie zu einem Wallfahrtsziel – freilich nicht wie Gläubige zum Gnadenort, eher wie Hungrige an die Futterkrippe.
Die amerikanische Residenz war ein schmuckloser Betonklotz, der an eine Kaserne erinnerte, was auch daher kommen mochte, daß die Hausherren ausnahmslos Uniform trugen. Das riesige Gebäude hatte ihrer Wahl, nicht jedoch ihrem Geschmack entsprochen: weil es zentral beheizt werden konnte, intakt war und genügend sanitäre Einrichtungen besaß, war der weißgraue Komplex schließlich zu einem Hauptquartier innerhalb des Vier-Zonen-Deutschlands aufgerückt.
Die Hausherren waren Offiziere, aber keine Buchhalter. Sie waren als Sieger gekommen und nicht als Kalfaktoren. Viele von ihnen wußten, wie man einen Atlantikwall durchbricht, wenige aber, wie man einen Trümmerhaufen verwaltete, was sie nunmehr besorgen sollten, da aus dem Kreuzzug in Europa ein Kreuzweg in Germany geworden war.
Martin näherte sich dem Portal. Er trug einen neuen Anzug aus Zellwolle, der grau war und an den Schultern scheuerte, Bezugsscheinware, dazu schwarze Halbschuhe, ein weißes Hemd mit amerikanischem Kragen, eine dunkelrote Strickkrawatte und deutliche Lust am Leben. Er ging mit saloppen Schritten wie einer, der Zeit hat und Geld, die Not nicht sieht, den Hunger nicht kennt und den Hausarzt nicht fürchtet.
Er betrat die Portiersloge, als erobere er sie; der Pförtner hatte eine gerötete Glatze, eine wichtige Miene und eine selbstgedrehte Zigarette.
»Was wollen Sie?« fragte er in strengem Ton.
»Ich möchte zu Captain Lessing.«
»Haben Sie eine Vorladung?«
»Nein.«
»Dann müssen Sie sich schriftlich anmelden.« Der Pförtner reichte Martin einen Fragebogen. Er sah, daß der ungeladene Besucher ihn gleich ausfüllen wollte, und sagte: »Sie müssen das mit der Post schikken. Sie erhalten schriftlichen Bescheid, so rasch geht das bei uns nicht.«
Martin war erfahren im Umgang mit Behörden und mit Hausverwaltern, die sich wie Hausherren aufführten; er wies seinen Ausweis als Verfolgter des Regimes vor. Ein durchschlagender Erfolg blieb ihm zunächst versagt, denn sehr viele, die hier ein und aus gingen, waren politisch verfolgt worden – oder wollten es gewesen sein.
»Trotzdem«, entgegnete der Portier.
»Außerdem bin ich ein Freund von Captain Lessing.«
»Ein Freund? Von Mr.…«, er hob die Stimme, denn der amerikanische Mister-Rang hatte derzeit den deutschen Doktortitel abgelöst, »von Mr. Lessing?« Er griff zögernd zum Telefonhörer, war noch immer mißtrauisch und telefonierte mit dem Vorzimmer. Um von den Gesuchen der Besetzten nicht überschwemmt zu werden, benutzten die Besetzer die Vorräume als Schleusen. »Captain Lessing ist zu einer Besprechung beim Gouverneur. Warten Sie hier«, sagte der Portier. Er deutete auf eine Bank.
Der Gouverneur war am Ende seiner täglichen Konferenz. Sie hatte wie meist der politischen Säuberung sowie der Verbindung zwischen den alliierten Dienststellen gegolten. Da die örtlichen Militärkommandanten wie absolute Fürsten regierten – Washington war weit, und das Pentagon hatte sich mehr mit dem Sieg als mit der Verwaltung des Sieges beschäftigt –, war je nach Format, Herkunft, Temperament und Auffassung der regionalen Regenten die Anwendung der Kontrollratsgesetze verschieden, so daß zwischen den einzelnen Dienststellen ein Gefälle entstanden war, das viele der Besetzten zu nutzen wußten; es konnte in der Praxis dazu führen, daß