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nicht«, entgegnete der Gefangenen, »aber – vielleicht morgen …«

      Felix kostete die Bitternis eines Sieges, der ihm gestohlen wurde; an seinem versteinerten Haß hing das Mitleid wie ein Bleigewicht.

      »Es war schlimm, was mir alles zugestoßen ist«, sagte der Mann mit der toten Stimme, »aber vielleicht – vielleicht habe ich Ihnen jetzt sogar – zu danken …«

      Felix atmete schwer. Er spürte, daß der Mann wuchs – während er zu schrumpfen schien. Es fiel ihm schwer, weiterhin sein Opfer anzusehen, dessen Gesicht schon still wie ein Friedhof wirkte, mit leblosen Zügen.

      »Okay«, sagte Felix und winkte den Posten herbei, der während des Gesprächs mit stupider Miene auf einem Stuhl gesessen hatte und jetzt mit den Schlüsseln und Handschellen wieder zu dem Mann in der Rotjacke trat.

      Jetzt, dachte Felix. Er stand und schwankte, hoffte und verzagte, wehrte sich und wartete: auf einen Bestechungsversuch, auf Erniedrigung, auf einen Ausbruch des Zorns.

      Der Alte machte es ihm schwer. Er streckte seinem Bewacher die Arme entgegen wie ein Kind, das der Mutter beweisen will, daß es sich vor Tisch die Hände gewaschen hat.

      Die Handschellen klickten ein.

      Wenn Ritt jetzt etwas sagen würde, überlegte Felix, wenn er mich jetzt um Verzeihung bäte, wenigstens für Martin, wenn er jetzt ein rechtes Wort fände, eine gute Geste zeigte, dann würde ich umfallen, neun oder zehn Stunden vor seinem Ende, und müßte ich den Strick selbst durchschneiden.

      Felix beugte sich vor, erschrocken und gespannt.

      Friedrich Wilhelm Ritt nickte. Ohne den Sohn seines Opfers noch einmal anzuschauen, folgte er willig und gebeugt dem Posten. Der junge Captain starrte ihm noch nach, als er schon gegangen war und sich die Falltür dieses Lebens bereits geschlossen hatte.

      Felix fuhr los, ohne sich von dem Kommandanten zu verabschieden. Er fürchtete die Leere des Raums, den der Haß gefüllt hatte. Er hatte Ritt vernichten müssen, um das Bild der brennenden Synagoge loszuwerden. Aber er fürchtete, daß ihn nun eine andere Vision verfolgen würde: der Mann mit dem Friedhofsgesicht, der morgen früh die dreizehn Stufen des Blutgerüstes hinaufsteigen mußte.

      Der Captain parkte den Wagen vor dem Hotel und fand Susanne in dem Nebenzimmer. Sie hatte den Kopf auf die Arme gestützt, auf ihrem Gesicht lag eine Zeitung. Er zog sie vorsichtig weg. Susanne erschrak, dann sagte sie leise, zu den stillen Frauen schauend, die in ein paar Stunden Witwen sein würden:

      »Ich kann das nicht sehen. Ich will nicht hier bleiben. Keine Stunde. Können wir nicht weg?«

      »Sofort«, entgegnete Felix.

      Sie fuhren ab. Jetzt war er froh, daß sie bei ihm geblieben war. Er wollte nicht allein sein in dieser Nacht. Er spürte, daß er sich betrinken mußte. Wie immer würde der Schnaps alles schlimmer machen, steigern, verzerren, enthüllen.

      Susannes Hand lag auf seinem Arm.

      »Es war – schlimm?« fragte sie behutsam.

      Er schwieg. Seine Lippen lagen so fest aufeinander, daß sie schmal wurden, gerade. »Susanne«, fragte er später, »bleibst du heute bei mir?«

      »Wenn du willst?«

      »Und deine Eltern?«

      »Trotzdem.«

      »Danke«, sagte Felix. Es klang, als schäme er sich.

      X

      Als sich die Schranke des amerikanischen POW-Camps bei Reims im Mai 1947 hob, spürte der entlassene Kriegsgefangene Martin Ritt ein Gefühl, das seinen ganzen Körper erfaßte, auf der Haut prickelte, in seine Lunge schnitt und in seinen Schläfen klopfte.

      Es war ein trockener Rausch, ein nüchterner Wahn.

      Er wollte stehenbleiben, ein dicklicher MP-Soldat stieß ihm mit mittlerer Wucht seinen Gewehrkolben in den Rücken. Martin lächelte: die neue Freiheit hatte ihm die Hand gereicht. Er ging weiter, gefühllos gegen den Schmerz. Er mußte wieder nach hinten sehen, mußte die Gesichter seiner Bewacher betrachten, von der Langeweile des Militärlebens genormt.

      Das Mitleid, das er für sie empfand, war überwältigend: er sah sie weiter strammstehen, während er mit zügigen Schritten in ein Leben ohne Uniform, ohne Befehl, ohne Kasernenhof, ohne Erkennungsmarke, ohne Ducken, ohne Fallen, ohne Kunsthonig und ohne Latrinen ging.

      Auf einem offenen Kohlenwagen fuhr er über geflickte Schienen. Für eine Reise von zehn Stunden brauchte er zehn Tage und war noch rasch vorangekommen. Der Frankfurter Hauptbahnhof empfing ihn wie eine Lücke in einem morschen Gebiß.

      Martin war endgültig frei, als er vom Waggon sprang. Während er mit elastischen Schritten durch die zerbombte Stadt ging, trug er die speckige Uniform bereits wie ein Maßanzug. Er lief achtlos an Trümmern vorbei, stapfte über Schuttberge hinweg. Auch die Menschen wirkten wie Schutt. Sie waren blaß, schlecht angezogen, hatten fiebrige Augen und bückten sich nach Zigarettenkippen.

      Martin hatte, so schien es, nichts mit ihnen zu tun. Er spürte auch kein Mitleid. Die Alten haben es verdient, dachte er, jedenfalls viele von ihnen, und die Jungen wird es abhärten gegen die Phrasen der Nationalisten, gegen die Moral der Kleinbürger. Raubtierinstinkte, so überlegte er weiter, sind immer noch besser als Kadavergehorsam …

      Aus den Ruinen der prunkvollen Geschäftsstraße hingen Rohre wie abgeschnittene Därme. An der Hauptwache blieb er stehen und betrachtete Ratten, die es miteinander trieben. Die Menschen kamen ihm ungewöhnlich dünn, die Ratten ungewöhnlich dick vor. Sie wühlten unter den Trümmern, wo noch Tote des Luftkrieges lagen.

      Er fuhr zum westlichen Stadtrand. An den Straßenbahnen hingen Menschentrauben. Die ganze Stadt war eine Trümmerhalde. Oft fuhr er fünf Minuten lang durch Ruinen; dann stand wieder unbeschädigt ein Haus, bei dem nur die Scheiben durch Pappe ersetzt waren. Es wirkte paradox, grotesk. Zufälligkeiten hatten ganze Familien gerettet, andere vernichtet.

      Der Heimkehrer stieg aus. Seine Schultern waren hochgezogen, die Augen offen, kühl, grau. Er wirkte wie gestaute Kraft. Er beugte sich nicht nach Zigarettenkippen, entschlossen, sich nie mehr zu bücken. Er trug die Uniform der Verlierer und ging wie ein Sieger. Er kam aus einem Welt-Krieg, als zöge er in eine Privat-Schlacht.

      Gleichgültig ging er an müden Passanten vorbei. Spielende Kinder lächelten ihm zu, Frauen suchten seinen Blick, der ihnen wie feiner Sand über die Haut rieselte.

      Wo die Großstadt endete, begann der Frühling. Zwischen den Ruinen und den Häusern des südlichen Villenvorortes lagen Felder, Wiesen, ein kurzes Waldstück. Die Sonne war schon unterwegs. Ihre Strahlen kletterten wie Käfer an den sattgrünen Halmen hoch. Die Kerzen der Kastanien reckten sich. Vereinzelt blühte schon Flieder. Die Luft roch nach Frühling, der Sand der Waldwege glänzte wie Gold. Spielende Falter woben gelbe Tupfen in das üppige Grün. Durch die Kronen der Bäume fielen irisierende Lichtflecke wie durch ein bemaltes Kirchenfenster. Der Morgen war voll Andacht. Die Luft roch nach Erde und Tau, nach Jugend und Verwirrung.

      Martin lief blicklos durch die sanftschöne Landschaft wie über eine Marschstraße: er witterte seine Zukunft. Es entsprach seiner Gewöhnung, die Natur nicht in ihrer Schönheit zu bewundern, sondern nach Deckungslöchern und Laufgräben zu bewerten. Schönheit war etwas für Romantiker; Deckung aber tat not für Männer, die eine Stunde, einen Tag oder einen Krieg überleben wollten.

      Der Krieg hatte ihn hart, nüchtern und bedenkenlos gemacht. Er war von der Zeit getreten worden; künftig wollte er die Zeit treten. Er war entschlossen, aus Jahren, die ihn viel gekostet hatten, seinen Zins zu nehmen.

      Eine Querstraße noch, dann erreichte er das Haus seines Vaters. Auf einmal spürte er Angst, daß ihn die Bomben der Auseinandersetzung enthoben haben könnten oder daß Friedrich Wilhelm Ritt, von dem er seit fast drei Jahren nichts mehr gehört hatte, in einem Internierungslager untergetaucht sei.

      Die meisten Häuser waren zerstört, aber hinten links, das zweite, die von seinem Vater erworbene Villa, stand noch.

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