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      »Viele«, sagte Kasper Grundtvig. Er klang plötzlich unendlich müde. »Das Ganze ist völlig außer Kontrolle geraten. Wir mussten Verstärkung aus der gesamten Region anfordern.«

      Wagner wusste, was das bedeutete. Polizisten mit Hundestaffeln waren sowohl von Horsens als auch von Silkeborg, Odder, Randers und Viborg gekommen.

      »Wir mussten das Hafengebiet räumen«, erklärte Kasper Grundtvig gequält.

      Wagner nickte, während die Probleme sich in seinem Gehirn summierten. Eine Menschenhorde war vor kurzem in der Nähe des Tatorts herumgetrampelt. Wahrscheinlich konnten sie es gleich aufgeben, nach brauchbaren Spuren zu suchen. Wenn man eine Leiche loswerden wollte, konnte man sich so gesehen keinen besser geeigneten Ort aussuchen.

      Als er eine Zeit lang vor der Leiche gehockt, dem Tod direkt ins Gesicht gestarrt und nach einer Antwort gesucht hatte, die nicht gekommen war, stand er auf und ging zu der Gruppe hinüber, in der Dicte Svendsen stand.

      »Das sieht übel aus«, sagte er mit Blick auf Bos blutende Augenbraue. »Hast du ein paar Bilder gemacht?«

      Bo schaffte es zu nicken und fast gleichzeitig den Kopf zu schütteln. Halblanges, blondes Haar wippte im Dunkeln, doch Wagner sah, dass der zottige Bart gestutzt war. Ja, ja, dachte Wagner. Wenn man den Mann schon nicht zähmen kann, dann wenigstens den Bart.

      »Sie haben mir meinen Speicherchip abgenommen und weggeworfen«, sagte Bo ärgerlich.

      »Wo?«, fragte Wagner.

      Bo drehte den Kopf Richtung Parkplatz.

      »Da drüben irgendwo. Vor einer halben Stunde hat es hier vor Menschen gewimmelt. Es ist ziemlich hoch hergegangen.«

      Im gleichen Moment sah Wagner Jan Hansens muskulöse Gestalt, die sich an den Bediensteten vorbeischob und auf sie zukam. Der Schädel rasiert, der Schnurrbart gepflegt. Sanftmütig und mit einer ausgeprägten Begabung, Befehlen Folge zu leisten. Hier kam ein Mann, den seine Frau im Griff hatte.

      Schnell weihte er Hansen in das Geschehen ein.

      »Wir müssen diesen Chip finden. Sprich mit Kasper Grundtvig und nimm ein paar Leute mit.«

      Er nickte Bo zu.

      »Brauchst du einen Arzt?«

      Bo schüttelte den Kopf.

      »Aber der Speicherchip gehört mir«, beharrte er eigensinnig. »Den kann ich euch nicht so ohne weiteres überlassen.«

      Innerlich verfluchte Wagner die Presse und ihre heiligen Prinzipien.

      »Darüber reden wir später.«

      Bo riss sich los, presste ein Taschentuch gegen die Augenbraue und machte sich mit Hansen auf die Suche nach dem Speicherchip. Wenn sie Glück hatten, war etwas darauf, das die Polizei brauchen konnte, dachte Wagner. Falls sie den Fotografen überreden konnten, ihnen den Chip zu überlassen. Wenn sie Pech hatten, schwamm der Chip irgendwo im Hafenbecken und Bo Skytte konnte seine Prinzipien vergessen.

      Er wandte sich an Dicte Svendsen. In der halben Sekunde bis einer von ihnen etwas sagte, gingen ihm tausend Gedanken durch den Kopf, und er begriff, warum er so gereizt war. Es lag nicht allein an der Hitze, dem fehlenden Nachtschlaf und dem Tumult, den die Leiche einer jungen Frau im Hafen von Århus mit sich brachte. Es lag auch an der Tatsache, dass Dicte und Ida Marie Freundinnen waren und er nicht wusste, wie viel Ida Marie ihr erzählt hatte. Frauen erzählten sich alles, sagte ihm die Erfahrung. Für sie war es genauso wichtig, sich einander anzuvertrauen, wie es für Männer wichtig war, ihre geheimsten Gedanken für sich zu behalten. Dicte wusste bestimmt Bescheid über ihren Versuch, die Familie um noch ein Kind zu vergrößern, und das irritierte ihn über alle Maßen.

      »Und ihr wart zufällig in der Nähe?«

      Er sah, wie sie unter seinem barschen Ton zusammenzuckte.

      »Wir waren in einem Restaurant im Graven, als Rose anrief.«

      Sie sagte das mit einem Blick zu ihrer Tochter hinüber, die dicht neben einem jungen Einwanderer stand. Wagner begriff plötzlich, dass Dicte ihre eigenen Probleme hatte.

      »Das heißt, dass sie und ihr Freund schon eine ganze Zeit hier waren, bevor ihr gekommen seid?«

      Sie nickte.

      »Dann müssen wir die beiden als mögliche Zeugen befragen.«

      Er sah die kleine Narbe am Mund nach oben zucken und wusste in etwa, was jetzt kommen würde.

      »Wie ungefähr einhundertsiebzehn andere Diskobesucher und die geballte Polizeigewalt von fünf Landkreisen«, sagte sie auch sofort, während ihr Blick ihn anfunkelte. »Und wenn du schon einmal dabei bist, kannst du auch gleich ein paar Polizeihunde verhören.«

      Er wartete einen Augenblick, bis sich die Wogen geglättet hatten. Vielleicht sah sie ein bisschen müde aus, aber ihre Worte hatten Biss. Wenn er Ida Marie wäre, würde er sich nicht so viele Gedanken um sie machen.

      »Wie geht es sonst?«, fragte er seidenweich.

      Sie sah ihn verblüfft an, bevor sie antwortete, gnadenlos ehrlich wie immer.

      »Furchtbar.«

      Geduldig wartete er, dass sie diese Aussage vertiefte, und hörte sie mit einem tiefen Atemzug Anlauf nehmen.

      »Bo fliegt in einer Woche in den Irak, Rose hat einen neuen Freund, und mir tut das Kreuz weh.«

      »Neid?«, fragte er mit einem Blick auf Rose und ihren schönen Einwanderer.

      »Ischias. Ich habe mir einen Nerv eingeklemmt«, erklärte Dicte und lächelte zum ersten Mal in dieser Nacht.

      3

      »Das ist kein Problem, Mama, das habe ich doch gesagt.«

      Kein Problem. Dicte steuerte um einen Lastwagen herum. Sie waren auf dem Weg zum Gymnasium in Tilst, Rose saß auf dem Beifahrersitz. Dicte schwenkte scharf auf ihre Spur zurück, und der Fahrer hinter ihr drückte auf die Hupe.

      »Mama!« Roses erschrockene Stimme erreichte sie durch ihre Mauer aus Wut und Sorge. »Du fährst wie eine Verrückte«, fügte ihre Tochter hinzu, die gerade Fahrstunden nahm und der man so leicht nichts mehr vormachen konnte.

      »Vielleicht jetzt nicht«, meinte Dicte und nahm das Gespräch über Roses neuen Freund wieder auf. »Aber das wird es irgendwann einmal werden«, sagte sie in düsterer Vorahnung. »Das ist unumgänglich.«

      Rose seufzte und machte mit diesem Seufzer der Frustration aller Teenagertöchter über verständnislose Mütter Luft.

      »Er studiert Medizin, das habe ich dir doch gesagt. Er ist integriert.«

      Das letzte Wort sprach sie sehr betont aus. Dicte verstand. Es war nicht leicht, im heutigen Dänemark Moslem zu sein. Jeder behandelte einen mit unterschwelligem Misstrauen, sie inklusive. Es war auch nicht leicht für ein dänisches Mädchen, einen moslemischen Freund zu haben. Ohne dass man es verhindern konnte, setzten andere ihn sofort mit Frauenunterdrückung und Fanatismus gleich.

      »Ich will nicht sagen, dass Aziz nicht klug und tüchtig ist«, begann sie.

      »Was willst du dann sagen?«, fragte Rose sanft.

      »Ich will sagen, dass du seine Familie nicht kennst. Ich will sagen, dass in schwierigen Zeiten der Kulturunterschied und eure unterschiedlichen Religionen Probleme machen können. Ich will sagen, dass Liebe nicht immer reicht.«

      »Reicht wozu?«

      Dicte bog ab und hielt vor dem Gymnasium. Es war Montagmorgen und die vom Wochenende müden Teenager trudelten mit nackten Bäuchen, Jeans und kurzen Röcken, die auf den mageren Hüften hin und her rutschten, zaghaft ein.

      »Um glücklich zu werden«, sagte sie und bereute es sofort. Nicht, weil es nicht stimmte, sondern weil sie ihre Tochter nur allzu gut kannte. Rose griff den Ball auch sofort in der Luft auf und schoss ihn leicht und elegant ins Ziel.

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