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Der erobernde Islam. Shafique Keshavjee
Читать онлайн.Название Der erobernde Islam
Год выпуска 0
isbn 9783765575914
Автор произведения Shafique Keshavjee
Жанр Религия: прочее
Издательство Bookwire
a. Der laizistische und liberale Islam
b. Der mystische Islam der Sufi-Orden
c. Der populäre und kulturelle Islam
d. Der offizielle und staatliche Islam
e. Der radikale Islam der Durchdringung
f. Der radikale revolutionäre Islam
Diese sechs Gruppen lassen sich natürlich nicht ganz klar trennen. Es gibt auch Mischformen.
So haben in der Vergangenheit auch Sufi-Bruderschaften (wie die Naqschbandiya) zu den Waffen gegriffen. Dasselbe gilt für den Emir Abd el-Kader (1808–1883), der gleichzeitig ein großer islamischer Mystiker und gefürchteter militärischer Anführer war, der im Namen des Dschihad* gegen die französische Invasion in Algerien gekämpft hat. Es ist kein Widerspruch, wenn Muslime, die die Scharia* (oder das islamische Recht) auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen wollen, gleichzeitig von mystischer Poesie geprägt sind.
Diese sechs Strömungen können auf einer Achse mit zwei Extremen dargestellt werden: A. die Trennung zwischen Religion und Politik und Z. die Unterwerfung der Politik unter die „islamische Offenbarung“.
1. Der laizistische und liberale Islam
Der laizistische Islam erkennt eine klare Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Macht an. Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938), der erste Präsident der Republik Türkei, war ein berühmter und glühender Verteidiger dieser Linie.
„Atatürk [war] nicht zufrieden damit, das Sultanat abzuschaffen, das im kollektiven Bewusstsein in den heiligen Rang des Kalifats erhoben worden war (woraus sich der Protest der Ulema der Al-Azhar-Universität in Kairo und die Erschütterung, die die Aktion Atatürks im muslimischen Bewusstsein auslöste, erklären), [er] griff [sogar] das semiologische Universum der Muslime an, indem er das arabische Alphabet durch das lateinische Alphabet, den Turban und den Fes durch den Hut und die Schari’a durch das Schweizer Zivilrecht ersetzte.“
Mohammed Arkoun4
Seit einigen Jahrzehnten gibt es zahlreiche muslimische Denker, die sich bemühen, Abstand von einem buchstabengläubigen, traditionalistischen Islam zu nehmen, der die Grundlagentexte nicht in ihrem historischen Zusammenhang auslegt. Sie versuchen einen „liberalen“ oder „reformierten“ Islam zu fördern, in dem die Werte der modernen Welt voll integriert sind. In seinem Buch Islam et liberté. Le malentendu historique [Islam und Freiheit. Ein historisches Missverständnis] hält Mohamed Charfi fest:
„[…] in der muslimischen Welt hat der religiöse Fanatismus in den letzten Jahren mehr Leiden und Opfer versursacht als anderswo […] Die Scharia ist ein Musterbeispiel für Frauenfeindlichkeit, ihr Strafrecht unmenschlich und ihre Regeln eine grobe Verletzung der Gewissensfreiheit. […] Gott ist nicht fanatisch, aber die Ulemas (Religionsgelehrten) von gestern und heute sind es […] Die Juden und Christen haben diese schändliche Regel einer Ein-Weg-Wahl abgeschafft [wonach man die Religion zwar annehmen, aber nicht mehr verlassen kann], während der Islam sie wegen seiner Theologen und Fundamentalisten immer noch aufrechterhält.“5
Viele andere Muslime haben es ebenfalls gewagt, die verkrusteten Strukturen des Islam zu kritisieren. Manche sind sogar so weit gegangen, dem Islam den Rücken zu kehren (z. B. Ibn Warraq). Andere, wie Abdelwahab Meddeb, haben den Finger auf die „kranken Stellen“ des Islam gelegt. Oder Wafa Sultan, der sich zwar dazu bekennt, muslimisch zu sein, aber es gleichzeitig wagt, den Islam als eine Religion der Angst und des Hasses, vor allem auf Frauen, zu kritisieren. Und noch andere wie Mohammed Arkoun, Muhammad Said al-Ashmawi, Rachid Benzine, Soheib Bencheikh, Hamadi Redissi, Hechmi Dhaoui, Fuad Zakariya, Abdennour Bidar oder Abdelmajid Charfi haben einen neuen geläuterten, überdachten, mehr oder weniger „modernisierten“ Islam vorgeschlagen.6
Für die Autoren, die muslimisch und gläubig geblieben sind (denn ein immer größerer Teil von Muslimen, die „atheistisch“ geworden sind, definieren sich gerne als „laizistische“ Muslime, um keine Besorgnis zu erregen), sind es die schönen Texte der islamischen Tradition und Geschichte, die weiterhin die Überbringer einer „Sinnschuld“ sind (Mohammed Arkoun)7.
Dieser laizistische und liberale Islam stellt für den Westen und die Anhänger anderer religiöser Traditionen kein Problem dar.
Dasselbe gilt für den esoterischen und fortschrittlichen Islam der ismailitischen Schiiten*, die den Prinzen Karim Aga Khan IV. als ihren 49. Imam anerkennen.
Leider ist die Stimme dieser „liberalen“ oder „fortschrittlichen“ Muslime kaum hörbar, da die ihrer Gegner lauter und drohender ist.
Eine weitere große Schwierigkeit besteht darin, dass es den meisten Autoren schwerfällt, auf die gewaltverherrlichenden Texte im Koran, den Hadithen und der Sîra hinzuweisen. Und diese „Verdrängung“ oder „Vernachlässigung“ pflanzt sich im Leben der muslimischen und nicht-muslimischen Gesellschaften weiter fort durch die wortwörtliche Umsetzung der Lehren durch Muslime, die sich weigern, „eine humanistische Reform des Islam vorzunehmen“ (wie diese reformerischen Muslime) und entschlossen sind, „die gesamte Menschheit durch den Islam zu reformieren“.
2. Der mystische Islam der Sufi-Orden
Der mystische Islam basiert auf den Lehren des Koran und des Propheten Mohammed, die das innere Leben in den Vordergrund stellen, wie es von den Sufi-Meistern ausgelegt und weiterentwickelt worden ist. In der äußeren wörtlichen Bedeutung des Korantextes (zâhir) und darüber hinausgehend versucht die mystische Interpretation den inneren Sinn (bâtin), die geheime, esoterische Bedeutung, zu erfassen.
Ab dem 12. Jahrhundert, insbesondere unter dem Einfluss des östlichen christlichen Mönchtums, konnten die Sufi-Orden, auch Bruderschaften oder Ordensgemeinschaften genannt (Tarîqa, wörtlich der „Weg“ oder „Pfad“), einen großen Aufschwung verzeichnen. Unter der Anleitung eines Meisters (Scheichs) (cheikh, pîr) werden die Schüler (Adepten) auf einen persönlichen und gemeinschaftlichen Weg zu Gott geführt.
Manche dieser Sufi-Orden bestehen auch heute noch.
Die Qadiriya nehmen Bezug auf den hanbalitischen Prediger Abd al-Qadir (12. Jahrhundert), die Rifâ’iya berufen sich auf den schafiitischen Scheich Ibn al-Rifâ’i (1106–1182) und die Suharawardiya auf den Gründer ihres Ordens, Scheich Umar al Suharawardi (1145–1234), der dem abbasidischen Kalifen nahestand. Diese drei Sufi-Orden sind im Irak entstanden und haben sich bis weit nach Afrika und Asien verbreitet. Viele weitere Sufi-Orden wie die Schahdhiliya (in Tunesien im 12. Jh. gegründet), die Mevlevi oder Jalalia (die sich auf den Sufi-Dichter Rumi im 13. Jh. berufen), die Naqschbandiya (die auf Al-Naqschaband im 14. Jh. zurückgehen), die Idrisiya (im 19. Jh. im Maghreb gegründet), die Tidschaniya (ebenfalls im 19. Jh. im Maghreb gegründet), die Muridiya (im 19. Jh. im Senegal gegründet), die Senussi-Bruderschaft (im 19. Jh. in Libyen gegründet) etc. üben weiterhin einen wichtigen Einfluss auf viele Muslime in verschiedenen Teilen der Welt aus.
„Der Sufismus wurde zuerst wegen seines Mystizismus verfolgt, der ihn frei machte von der legalistischen und ritualistischen Bevormundung, und anschließend wegen seiner gesellschaftlichen Kraft, die die etablierten Bruderschaften zu potenziellen Zentren der Gegenmacht erhob.“
Jean Chevalier8
Eine der wichtigsten Figuren der Erneuerung des Sufismus im 19. und 20. Jahrhundert war Scheich Ahmad al-Alawi (1869–1934), Gründer der Ordensgemeinschaft Alawiyya, aus der Scheich Adda Bentounès (1892–1952)