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jeweilige Wirklichkeitsperzeption der Handelnden stark aufgewertet, weil ihnen eine Realität sui generis zugeschrieben wird. Bei der Differenzierung zwischen der faktischen Ebene der Geschichte und der historischen Wirklichkeitsperzeption der Beteiligten stellt sich die Frage, ob historische Theorien die Wirklichkeitssicht der Zeitgenossen oder die historischen Umstände erfasst werden. Mit Hilfe sozialwissenschaftlicher und historischer Methoden können zwar Hypothesen entwickelt werden, welche Ursachen beispielsweise eine Wirtschaftskrise hatte und in welchem Ausmaß gesellschaftlicher Aufstieg in bestimmten Berufen möglich war. Die Entscheidungen von einzelnen Personen, bestimmte Berufe zu ergreifen, können aber besser durch konstruktivistische Konzepte der Ideengeschichte geklärt werden.

      10. Neuorientierung der Historiographie

      Dabei handelte es sich um eine Neuorientierung und um einen Perspektivenwechsel in der Geschichtsschreibung. Die fruchtbarste neue Perspektive war der Aspekt der „longue durée“, worunter man die Vorstellung verstand, dass die Triebkräfte der Geschichte in langen Zeitabläufen wirken und sich nur in ihnen erfassen lassen. Diese Theorie der langen Zeitabläufe hat auch die Annäherung zwischen der Historik und der Ethnologie oder Anthropologie gefördert, die allerdings nicht spannungsfrei verlief. Febvre und Bloch, die sich besonders mit der Kollektivpsychologie und den Wechselfällen des Geistes in der Geschichte auseinandersetzten, haben so den Weg zur Mentalitätengeschichte bereitet. Seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts rief das Thema der Mentalitäten eine Umwälzung der Historiographie hervor. An die Stelle des privilegierten „Homo politicus“ trat der „Homo humanus“. Geschichte wurde auf diese Weise allmählich, insbesondere in der französischen Geschichtsschreibung, zu einer Historischen Anthropologie. Ihr Bestreben war nicht mehr, das Handeln des irgendwie als gegebenen oder fertigen Menschen zu erklären, sondern den Prozess der Menschwerdung darzustellen, also die Prozesse zu untersuchen, durch die Menschen zu dem geworden sind, was sie jeweils waren. Damit verband sich die wichtige Frage, welchen Anteil der Mensch als denkendes, fühlendes, wünschendes Wesen an diesen Prozessen hatte. Es geht hier also um historische Subjektivität, um vergangenes Seelenleben, um vergangene Gefühle und Sensibilitäten.

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