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Schwabens Abgründe. Группа авторов
Читать онлайн.Название Schwabens Abgründe
Год выпуска 0
isbn 9783842523494
Автор произведения Группа авторов
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Frau Martin«, sagt er. »Können Sie …«
Martin. Ich weiß, dass ich es bin, und trotzdem bin ich mir unsicher. Weil mich so lange niemand mehr so genannt hat. Weil …
»Frau Martin?« Der Polizist schaut mich fragend an.
»Entschuldigung«, sage ich automatisch und merke selbst, dass ich den Kopf einziehe. »Ich wollte Sie nicht verärgern. Ehrlich.«
Nun lächelt auch der Polizist. Keine fiese Fratze, sondern ein warmes Lächeln. Und diese Wärme kommt bei mir an. Berührt mich. »Es ist alles gut«, sagt er.
Gut, hallt das Echo in mir nach, und ich spüre, wie sich meine Muskeln allmählich wieder entspannen. Alles wird gut.
»Können Sie mir sagen, was in den letzten Tagen passiert ist?«
»In den letzten 527 Tagen? Ich kann nicht … ich meine …« Ich breche ab, starre auf meine Hände.
»Sie sind hier in Sicherheit, Frau Martin«, versichert er mir. »Können Sie mir sagen, was in den letzten Stunden passiert ist? Wo waren Sie in den letzten Stunden? Wie sind Sie hierhergekommen?«
Ich schließe die Augen, atme tief ein und wieder aus und versuche, der Angst, die in jedem Winkel meines Körpers und meiner Seele sitzt, die gegen die Freude der Freiheit kämpft, Herr zu werden.
»Er kann dir nichts tun«, flüstere ich und lasse die Bilder der Vergangenheit auf mich zurasen. Bedrohlich wie ein ganzes Heer von Kriegern, die mich vernichten wollen. Aber ich lasse mich nicht vernichten, ich bin in Sicherheit. Alles wird gut.
»Die letzten Stunden, sie waren wie immer. Ein fester Ablauf. Kein Abweichen. Immer genau dasselbe. Ich war im Kellerraum eingesperrt. Ein Kellerraum aus roten Backsteinen und mit einem Betonboden. Mit einer blauen Eisentür, die so einen Schlitz hatte. Zum Reinschauen … zum …« Es ist so heiß hier. Ich kann nicht atmen. Ich kann nicht …
»Trinken Sie einen Schluck Wasser«, sagt diese Ärztin. Das war sie doch, eine Ärztin. Oder? Wie hieß sie noch mal?
»Frau Martin, trinken Sie.« Sie schiebt einen weißen Plastikbecher über den Tisch.
Ich blicke von ihr zu ihm, schaue zur Tür und dem Mann in Uniform, der dort steht. Es sind drei. Drei Personen, die mich beschützen können. Vor ihm. Ich trinke. Schnell. Dann bin ich schneller zu Hause.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagt der Polizist.
Hatte er mir seinen Namen überhaupt gesagt? Aber eigentlich ist das egal, denn eigentlich sind Namen nicht wichtig.
»So eine Klappe, in der Tür«, wiederholt er meine Worte.
Ich nicke. »In der Wand, gegenüber der Tür, war ganz oben ein schmaler Streifen. Ein kleines Fenster. Ich kam nicht dran. Der Raum muss fünf oder sechs Meter hoch gewesen sein. Ein Keller. Verstehen Sie? Ein düsterer Kerker aus rotem Backstein.«
Der Polizist nickt, er versteht mich.
»Aber immerhin hatte ich ein wenig Licht, und so konnte unterscheiden, ob Tag oder Nacht war. So konnte ich zählen.«
»Zählen?«, fragt er.
»Die Tage. 527. Ich habe mit kleinen Bruchstücken des Backsteins Striche auf dem Boden gemacht. 527 Striche. Verstehen Sie?«
»Ja, ich verstehe.«
Erst jetzt fällt mir auf, wie weich seine Stimme ist. Weich, wie dicker dunkelroter Samt.
»Frau Martin, Sie sagten, dass er Sie dort eingesperrt habe. Waren Sie nur in diesem Kellerraum oder durften Sie diesen Raum ab und zu verlassen? Um auf die Toilette zu gehen?«
Ich schüttle den Kopf und starre dabei wieder auf meine Hände. Blutverkrustete Hände. »Nur der Raum. Ein Eimer war meine Toilette. Den hat er einmal am Tag gewechselt. Und einmal am Tag durfte ich meine Zähne putzen. Da brachte er mir eine Schüssel mit Wasser, eine Holzzahnbürste und Zahnpasta. Er hat mich dabei immer genau beobachtet, mich nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen. Und er hat mich gezwungen, mich zu waschen. Dafür musste ich mich ausziehen. Nackt auszie… Ich wollte nicht … wollte meine Kleider nicht ausziehen …, weil ich … Aber als ich mich geweigert habe, hat er mich geschlagen. Mit der Faust ins Gesicht. Als ich am Boden lag, hat er mich getreten. Mehrfach. Es tat so weh. Dann hat er seine Hose geöffnet … er hat … mich angepinkelt. Gelacht hat er und gesagt, dass ich mich jetzt ausziehen müsste, weil ich sonst für immer und ewig nach seiner Pisse stinken würde.«
Ich schlucke, versuche, nicht zu hyperventilieren, mich auf die Tatsachen zu konzentrieren. »Ich habe mich ausgezogen und gewaschen. Und er hat dabei zugesehen. Nur zugesehen. Er hat mir neue Kleider gebracht. Kurze, durchsichtige Kleider, Fummel, die aussahen, als würden sie irgendeiner Prostituierten gehören. Überall hat die Haut durchgeschaut. Und das, obwohl ich in einem Keller eingesperrt war. Es war kalt. Überall nur Stein und Beton. Backstein. Die Kälte ist auf mich gekrochen, ist in mich hineingekrochen. Er hat mir nicht mal eine Decke gegeben. Nur zum Schlafen. Morgens hat er mir die Decke wieder weggenommen, damit er meinen Körper anglotzen kann. Jeden Tag. Immer das Gleiche. Vor seinen Augen ausziehen, waschen und den Fummel wieder anziehen.« Ich schaue dem Polizisten in die Augen. »Und er hat hinter der Tür gesessen, durch den Schlitz gegafft und dabei …« Ich will die Worte nicht aussprechen, will sie nicht hören.
»Dabei was?«
»Das wissen Sie doch!«, schreie ich. Mein Speichel spritzt auf den Tisch, bleibt in feinen Tröpfchen darauf liegen.
Der Polizist hält meinem Blick stand, sagt nichts. Er lässt mir Zeit und nickt schließlich. »Haben Sie sein Gesicht gesehen?«
Ich bedecke mein Gesicht mit den Händen, versuche, mich zu erinnern, doch ich sehe immer nur seine Augen. Er hat eine Sturmhaube getragen, wenn er den Raum betreten hat.
Ich lasse die Hände sinken. Meine Hände, an denen sein Blut klebt. »Grün«, sage ich.
Feine Falten ziehen sich über die Stirn des Polizisten, als er die Augenbrauen fragend zusammenzieht.
»Seine Augen«, sage ich, »sie sind grün. Er hat eine Maske getragen. Sein Körper ist sportlich gebaut, und er ist groß.«
Er wirft der Ärztin einen kurzen Blick zu. Ich hatte sie vergessen, so still sitzt sie da, schreibt mit, beobachtet mich.
»Hat er Sie je …«, beginnt er.
»Vergewaltigt?«, vollende ich den Satz, bevor er sich der Peinlichkeit hingeben muss, es auszusprechen. »Nein, hat er nicht. Dazu war er zu feige.« Ein fahler Geschmack breitet sich ich in meinem Mund aus. »Immer, wenn er den Raum betreten hat, musste ich mich mit dem Gesicht zur Wand stellen. Er hat sich hinter mich gestellt. Erst weiter weg, um mich zu begaffen. Dann kam er einen Schritt näher. Und noch einen. Bis ich seinen keuchenden Atem in meinem Nacken spüren konnte.«
Mir wird schlecht. Schnell greife ich nach dem Plastikbecher, trinke gegen die Übelkeit an. Die Hälfte des Wassers verfehlt meinen Mund, rinnt über mein Kinn, tropft auf die Decke, die noch immer über meinen Schultern liegt. Die goldene Decke.
»Brauchen Sie eine Pause?«, fragt die Frau, und mir fällt ein, dass sie eine Psychologin ist.
Obwohl ich mich hundeelend fühle, schüttle ich den Kopf. Wenn ich es schnell hinter mich bringe, komme ich schneller nach Hause, schneller in mein altes Leben zurück.
»Bitte sagen Sie, wenn Sie eine Pause brauchen«, sagt sie. »Wir können das Gespräch jederzeit unterbrechen.«
Ich wende mich wieder dem Polizisten zu. »Danach hat er meine Zelle verlassen, mir Essen hingestellt und den Kloeimer ausgetauscht. So hat er es jeden einzelnen Tag gemacht.«
Als der Nachhall meines letzten Wortes verschwunden ist, bleibt nur