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Patientinnen.“

      Charlotte vermerkte diese Aussage auf ihrem internen Notizzettel. „Ich nehme an, Sie machen hier die Frühschicht?“, fragte sie dann weiter.

      „Ja.“

      Charlotte hatte immer noch Mühe, der Pflegerin zu folgen. „Mit wie vielen Kollegen arbeiten Sie in einer Schicht?“

      „Nur mit Jan.“

      „Und wer hat das Verbrechen bei uns gemeldet?“

      „Das war ich.“

      Charlotte wollte noch etwas fragen, als sie einen Schatten hinter sich bemerkte. Jemand folgte ihnen lautlos. Sie wandte sich um und stellte fest, dass es sich um einen alten Mann handelte – um einen sehr alten Mann –, der fest eine Puppe in den Armen hielt.

      Tief durchatmen, sagte Charlotte sich. Einfach ignorieren. „Ist Ihnen in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches auf der Station aufgefallen?“, wandte sie sich wieder an Heide Sacher.

      Die Pflegerin blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hier passieren jeden Tag die ungewöhnlichsten Dinge, Frau Kommissarin. Wir befinden uns in einer Psychiatrie. Bitte schön. Das hier ist Zimmer Nummer 9. Ihre Kollegen haben sich bereits eingefunden. Entschuldigen Sie mich jetzt bitte wieder. Die Arbeit wird nicht weniger, die Patienten sind völlig durcheinander, und wie Sie wissen, sind wir nur zu zweit.“ Das Lächeln, das daraufhin folgte, war flüchtig und enthielt nur wenig Freundlichkeit. Und kurz darauf war Heide Sacher auch schon wieder verschwunden.

      Wie eine knorrige alte Eiche, so stand Viktor Rosenkranz da und blickte sich unsicher um. Wenn er nur nicht schon wieder vergessen hätte, weshalb sich alle um ihn herum auf einmal so fürchterlich hektisch und aufgeregt benahmen. Aber er erinnerte sich nicht.

      Etwas ganz Außergewöhnliches war passiert, das verstand er immerhin. Aber was? Verschiedene Sätze und Satzfetzen schwirrten in seinem Kopf umher wie Mücken, aber er erinnerte sich einfach nicht, und das ärgerte ihn. Früher war er nicht so vergesslich gewesen, höchstens ein bisschen zerstreut. In letzter Zeit allerdings hatten sich die zerbrechlichen Verbindungen zwischen Denken und Handeln immer weiter aufzulösen begonnen. Statt der Erinnerung war in seinem Kopf nichts als Leere.

      „Hallo, Herr Rosenkranz“, sprach ihn jemand an, und er sah auf. Immerhin, diesen jungen Mann erkannte er. Es war Jan Jäger, der Pfleger.

      „Passen Sie wieder auf das Jesuskind auf?“, wollte er wissen.

      In Viktors Blick legte sich Verwunderung. Das Jesuskind? Erst jetzt fiel ihm wieder die Puppe ein, die er in den Armen hielt. „Ja“, sagte er. „Ja.“

      „Das ist gut“, sagte Jäger und lächelte aufmunternd. „Lassen Sie es nicht aus den Augen.“

      Der alte Mann nickte und wandte sich ab. Dann schlurfte er mit der Puppe im Arm in die Richtung, in der er sein Zimmer vermutete.

      5. KAPITEL

      Ein Toter ohne Augen

      9:01 Uhr

      Zu Lebzeiten musste der Mann recht gut ausgesehen haben, groß und schlank, mit vollem dunklem Haar, von silbernen Strähnen durchzogen, das ihm wellig aus der hohen Stirn fiel.

      Das mit dem recht gut aussehen war nun allerdings vorbei. Der Unterkiefer hing herunter, die Oberlippe war hochgezogen und die Vorderzähne wie zu einem Knurren gebleckt. Ein dünner Blutfaden war aus dem linken Nasenloch gesickert und schwarz eingetrocknet. Und er hatte keine Augen mehr.

      Charlotte blinzelte und unterdrückte eisern ein Flattern im Magen. „So etwas habe ich ja noch nie gesehen“, murmelte sie.

      Der Kollege von der Spurensicherung schoss ein paar Fotos. Der Auslöser klickte und surrte. „Eine Leiche ohne Augen ist mir bisher auch noch nicht untergekommen.“

      „Haben wir seinen Namen?“

      „Weinfried Tämmerer. Wurde kurz vor 8:00 Uhr gefunden.“

      Charlotte nickte und bewegte sich ein Stück zur Seite, um dem Mann nicht im Weg zu stehen. „Und was können Sie mir sonst erzählen?“

      „Er wurde erschossen, und das – wie ich für den armen Kerl hoffe –, bevor man ihm die Augen entfernt hat. Was das Kaliber der Waffe betrifft, möchte ich mich nicht festlegen. Die Kriminaltechniker werden Ihnen da mehr helfen können als ich.“ Der Kollege legte ein Lineal neben den Blutfleck, der sich unter dem Kopf des Opfers ausgebreitet hatte, und beugte sich etwas nach vorne, um ein weiteres Foto zu machen. „Was ich Ihnen aber sagen kann, ist, dass es sich um keinen Raubmord handelt. Brieftasche und ein paar Münzen lagen unangetastet in der Nachttischschublade.“ Er hob den Blick, sah zur Tür und seufzte leise auf. „Na, großartig … Kennen Sie Madame?“ Als Charlotte daraufhin den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: „Na, dann passen Sie mal auf.“

      „Also bitte, was darf es heute sein?“ Frau Dr. Hannelore Strickners Stimme fiel durch knappe, präzise Aussprache auf, und Charlotte fuhr bei ihrem Klang unwillkürlich zusammen. Als sie den Kopf wandte, konnte sie die Frau sehen, die in der Tür aufgetaucht war. Sie war Ende fünfzig und ihre grauen, mit blonden Strähnchen durchzogenen, auftoupierten Haare standen wie Stacheln in alle Richtungen. Auf ihrer Nasenspitze saß eine rote Diorbrille, und in der rechten Hand hielt sie einen großen metallenen Koffer, den sie schnaubend neben sich abstellte. „Entschuldigen Sie die Verspätung, aber leider beinhaltet mein Etat noch keinen Hubschrauber, mit dem ich von einem Gewaltopfer zum nächsten fliegen kann. Aber nun, da ich endlich hier bin … Was haben wir?“

      Charlotte räusperte sich. „Eine männliche Leiche. Keines natürlichen Todes gestorben.“

      „Was Sie nicht sagen“, bemerkte die Strickner.

      Charlotte räusperte sich erneut. „Er hat keine Augen mehr.“

      Die Ärztin machte sich gar nicht erst die Mühe, auf etwas zu antworten, was sie selbst sehen konnte. Stattdessen wandte sie den Kopf, um Charlotte besser ins Visier nehmen zu können. „Und wer sind Sie?“, wollte sie wissen.

      „Gärtner“, sagte Charlotte. „Mordkommission.“

      „Ah. Die neue Kommissarin.“ Für einen Moment wurden die Augen der Strickner schmal hinter der roten Brille, dann konzentrierte sie sich wieder auf die Leiche. Sie klappte ihren Koffer auf und streifte sich Handschuhe über. Dann beugte sie sich etwas nach vorne, um den Toten besser in Augenschein nehmen zu können. „Ganz schön abartig“, murmelte sie. „Die Augen wurden ihm offenbar gewaltsam herausgerissen.“

      Charlotte spürte schon wieder Übelkeit in sich aufsteigen, schloss für einen Moment die eigenen Augen, froh, dass sie diese noch besaß, und dachte darüber nach, dass es viele Gründe geben konnte, warum ein Mörder seinem Opfer die Augen ausriss. Ihr fiel nur im Moment keiner ein.

      „Aber immerhin, ich würde vermuten, dass es für den armen Mann ziemlich schnell ging“, bemerkte die Ärztin nach ein paar Sekunden und wandte ihre Aufmerksamkeit nun der Schusswunde zu. „Ein Schuss in die Schläfe. Am Einschussloch ist schwarzes, angetrocknetes Blut.“ Sie schien den Inhalt ihres Koffers blind zu kennen, denn sie griff ohne hinzusehen zielsicher nach einer Lupe und studierte damit die Haut rings um das Loch. „Sehen Sie das?“ Ohne aufzublicken, hielt sie Charlotte die Lupe hin. „Der graue Schimmer auf dem Schwarz der Einschusswunde deutet darauf hin, dass er aus nächster Nähe erschossen wurde, der Schuss aber nicht aufgesetzt war. Ich tippe auf etwa einen halben Meter.“

      Charlotte beugte sich etwas hinunter und starrte durch die Lupe.

      „Die Asymmetrie der Verfärbung zeigt, dass der Schütze stand und schräg nach unten geschossen hat“, fügte die Strickner hinzu.

      „Können Sie erahnen, was für eine Waffe verwendet wurde?“, fragte Charlotte.

      „Ballistik ist nicht mein Fachgebiet, Frau Kommissarin.“

      „Seltsam, dass niemand den Schuss gehört hat“, bemerkte der Mann von der Spurensicherung, ohne

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