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ein Füllhorn aussah, darüber befand sich das feine Gesicht einer Frau. »Hier ist etwas in den Stein gehauen, das irgendwie nicht dazugehört«, murmelte er und hielt das Feuerzeug näher an die Mauer. »Sieht neuer aus. Alt, ja, aber neuer. Sie verstehen.«

      »Kommen Sie auf den Punkt.«

      »Es ist die Zahl 256.«

      Frost hob die Augenbrauen und schob Payne beiseite. »Sie haben recht. Ich habe nirgendwo sonst auf den Gesichtern Zahlen gesehen.« Sie hielt inne. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. »Moment.« Vorsichtig tastend suchte sie das Buch auf dem Boden und blätterte aufgeregt darin. Payne leuchtete mit dem Feuerzeug. »Hier, Seite 256«, sagte sie triumphierend.

      »Sie ist grün.«

      »Das sehe ich auch. Merkwürdig.« Die ganze Buchseite war eingefärbt, als hätte jemand einfach großzügig darübergemalt. Rasch blätterte Frost durch den Rest des Buches, doch Seite 256 blieb die einzige Seite, die komplett in eine Farbe getaucht war. »Also, wenn das der nächste Hinweis sein soll, dann habe ich genauso viel Ahnung wie vorher.«

      »Lassen Sie uns hier verschwinden, das Feuerzeug wird langsam ziemlich heiß, und ich würde meinen Finger gern behalten.« Frost starrte immer noch auf die seltsame grüne Seite, Payne nahm ihr das Buch sanft aus den Händen. »Ich glaube nicht, dass es hier unten noch etwas gibt.«

      Frost nickte und hob Stadtplan und Notizzettel auf. Der Weg zurück ging schneller, nun, da sie den Weg kannten, und gleich darauf sahen sie den Lichtkegel des Treppenturms vor sich. Payne klappte das Feuerzeug zu, sobald sie nicht mehr Gefahr liefen, gegen unsichtbare Wände zu rennen.

      Frost wollte bis ganz hinauf auf den Turm steigen, um nach der dunklen Enge des Tunnels die Weite des Himmels für einen Moment zu spüren. Kalter Wind fuhr in ihre Haare, als sie ins Freie trat. Der Glockenturm des Münsters schlug die volle Stunde. Waren sie so lange dort unten gewesen? Sie hatte gar nicht bemerkt, dass so viel Zeit vergangen war.

      Payne setzte sich zwischen zwei Zinnen und zündete sich eine Zigarette an. Sie lehnte sich an die Mauer neben ihn und holte das Buch aus der Tasche. Vielleicht konnte sie bei Tageslicht mehr auf der Seite ausmachen als unten in der Dunkelheit beim Licht eines Feuerzeugs. Doch Seite 256 blieb grün. Frost hob das Buch in die Höhe und hielt die Seite gegen die Sonne, doch unter dem Grün schienen keine Buchstaben versteckt zu sein.

      »Grüne Seite, grüne Seite«, murmelte sie. »Was zum Teufel sollen wir damit anstellen? Das ist kein Hinweis, das ist eine Verarsche. Alchemisten sollen angeblich Genies gewesen sein, doch ich glaube, unser lieber Burlington war ein Idiot.«

      Payne lachte auf. »Seien Sie nicht so hart, Frost. Burlington wollte bestimmt nur eines: Wer auch immer seine Bibliothek finden wollte, musste ebenso schlau sein wie er und sich die Bücher auch verdienen. Wir werden schon noch herausfinden, was diese grüne Seite bedeutet.«

      Frost schnaubte und klappte das Buch hart zu. Himmel, sie brauchte dringend einen Kaffee. Der wenige Schlaf machte sich gerade sehr bemerkbar.

      »Lassen Sie uns zurück in die Stadt gehen. Ich glaube, wenn wir uns dem armen Inspektor nicht bald wieder zeigen, wird er noch die Kavallerie verständigen«, sagte Payne amüsiert und sprang von der Zinne.

      Kaum hatten seine Füße den Boden berührt, knallte ein Schuss. Winzige Splitter der Mauer flogen durch die Luft. Payne duckte sich instinktiv und zog Frost hinter die Zinne, wo er sie schützend an die Mauer presste.

      »Was war das?«, fragte Frost mit bebender Stimme. Ihr Herz raste, ihr Atem ging stoßweise.

      »Jemand hat auf uns geschossen.« Payne klang beinahe beleidigt. Dann sah er auf Frost hinunter und löste sich von ihr. »Alles in Ordnung?«

      Sie nickte und schluckte hart. Vorsichtig streckte sie den Kopf zwischen den Zinnen hervor. Gleich gegenüber befand sich der westliche Turm des Münsters, der Glockenturm.

      »Das war knapp«, hörte sie Payne sagen. Er ging aus der Deckung und fuhr mit dem Finger über das ansehnliche Einschussloch in der Zinne. Frost biss sich auf die Lippen. Das Loch befand sich genau da, wo Sekundenbruchteile zuvor noch Paynes Kopf gewesen war. Wäre er nicht von der Zinne gesprungen …

      »Jetzt schauen Sie nicht so entgeistert, Frost, ich lebe noch«, brummte Payne. Etwas in seinem Blick hatte sich verändert. Wieder strich er mit den Fingern über das Einschussloch, als könnte er etwas daraus lesen. Dann folgte er mit den Augen einer unsichtbaren Linie. »Das war ein Scharfschütze. Vermutlich aus dem Kirchturm oder dem Dach eines der Häuser daneben.«

      »Ein Scharfschütze?« Himmel noch mal, warum schoss ein Scharfschütze auf sie?! Inspektor Flannagan ging nicht so weit, sie einfach zu erschießen. Außerdem war er wohl kaum ein so guter Schütze, dass er auf die Distanz derart präzise schießen konnte. Nein, das war ein Profi gewesen. Doch warum?

      Angst kroch in ihr hoch, als sie den Kirchturm und die Häuserdächer nach etwas Verdächtigem absuchte. »Sollten wir nicht lieber von diesem Turm runter? Payne!«

      »Ich glaube nicht, dass wir noch in Gefahr sind, jedenfalls für den Moment.« Er wandte sich von der Aussicht ab. »Der Schütze hätte schon längst wieder geschossen, wenn er noch da wäre.«

      »Das beruhigt mich ungemein«, gab Frost ungehalten zurück und machte sich daran, die Treppe hinunterzusteigen. »Ehrlich, Payne, seit ich Sie kenne, wird ständig auf mich geschossen, und ich glaube langsam, dass Sie der Grund dafür sind.«

      »Jetzt tun Sie mir aber unrecht«, rief Payne ihr hinterher und beeilte sich, ihr zu folgen. »Sie stehen in enger Verbindung mit der chinesischen Mafia. Ich gehe jede Wette ein, dass Sie auch auf der Abschussliste einiger Leute stehen.«

      Das war in der Tat so, doch Frost hatte augenblicklich keine Lust, dem Pinkerton recht zu geben. Es war gerade wieder einmal auf sie geschossen worden, ohne dass sie auch nur eine Ahnung hatte, warum.

      Um den aufgestauten Frust loszuwerden, gab sie der bereits von Payne beschädigten Pforte einen kräftigen Tritt, der sie vollends auseinanderbrechen ließ. Frost hörte, wie der Pinkerton hinter ihr gluckste. »Wagen Sie es nicht, jetzt etwas zu sagen.«

      Payne hob schmunzelnd die Hände und hielt Sicherheitsabstand. Frost trat aus dem Turm und drückte sich an die Außenmauer. Wenn sie denselben Weg zurückgehen wollten, wären sie dem Schützen deckungslos ausgeliefert. Der grasbewachsene Hang war rutschig, und sie wollte nicht riskieren, auf dem Hintern zu landen und ein noch besseres Ziel abzugeben.

      So schnell und so vorsichtig wie möglich eilten Frost und Payne an der Mauer entlang und den Hang hinab, bis sie unbehelligt in der engen Gasse mit dem Rinnsal standen. Am anderen Ende der Gasse konnten sie die kostümierten Menschenmassen des Wikingerfestes vorbeiziehen sehen. In diesem Getümmel würde wohl niemand versuchen, auf sie zu schießen. Das Risiko, jemand Unschuldigen zu treffen, war viel zu groß. Hier waren sie in Sicherheit.

      »Ich schlage vor, wir gehen jetzt Kaffeetrinken«, sagte Frost mit versöhnlichem Ton und drehte sich zu Payne um. »Und vielleicht sollten wir für Sie einen Wikingerhelm kaufen. Steht Ihnen bestimmt prächtig.«

      Auf dem Glockenturm des Münsters blitzte das Zielfernrohr kurz im Sonnenlicht auf, als die Frau sich bewegte. Sie kniete vor der Balustrade einer sehr schmalen Galerie knapp unterhalb des Ziffernblattes. Das Gewehr fest in den Händen, schaute sie durch das Fernrohr. Im Fadenkreuz sah sie die beiden Personen auf dem Wachturm der Mauer. Der Mann schaute gerade hinter der Zinne hervor. Sie konnte die Emotionen in seinem Gesicht erkennen.

      Sie selbst zwang sich, die Wut über den verpatzten Schuss über sich hinweggleiten zu lassen. Ihr Atem ging flach und langsam, ihr Herz schlug ruhig und regelmäßig. Nicht eine Faser ihres Körpers bewegte sich.

      Der Mann stand nun genau zwischen den Zinnen. Der Zeigefinger der Frau spannte sich an. Diesmal würde sie ihr Ziel nicht verfehlen.

      Doch als der Mann genau in ihre Richtung schaute, hielt sie für einen Atemzug inne. Oh, er war gut. Beinahe hätte sie gelächelt, doch das hätte die Spannung in ihrem Körper verändert.

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