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schwarz vor Menschen. Es war ein warmer Sommertag, die Fenster wurden herausgenommen, und draußen drängten sich ebenso viele wie drinnen. Alle fühlten, daß heute eine große Schlacht bevorstand.

      Lars kam, von allen gegrüßt, mit seinem prachtvollen Pferd vorgefahren. Ruhig und sicher schaute er in die Runde, der Anblick, der sich ihm bot, schien ihn in keiner Weise zu überraschen. Er setzte sich in unmittelbare Nähe des Fensters, der Strohhalm war schon gefunden, und als er sah, daß sich Knud Aakre erhob, um im Namen aller Toten auf dem alten Friedhof von Høgstad das Wort zu ergreifen, huschte unwillkürlich ein Lächeln über sein kluges Gesicht.

      Aber Knud Aakre begann nicht mit dem Friedhof, sondern legte ausführlich dar, daß in dem ganzen Durcheinander die Vorteile der Bahn für die Gemeinde überschätzt worden seien. Das bewies er, indem er die Entfernung von jedem Hof zur nächsten Bahnstation anführte, und dann fragte er: „Warum ist denn wegen dieser Bahn so viel Aufhebens gemacht worden, wenn es dabei gar nicht um das Wohl der Gemeinde geht?“ Nun, das wolle er ihnen sagen: Daran seien jene schuld, die so viel Unruhe gestiftet hätten, daß eine noch viel größere erforderlich gewesen sei, um erstere vergessen zu lassen. Daran seien auch jene schuld, die in der ersten Aufregung Haus und Hof an Fremde verkaufen wollten, die dumm genug seien, sie auch zu kaufen. Das Ganze sei eine beschämende Spekulation, für die nicht nur die Lebenden, sondern auch die Toten ausgenutzt werden sollten!

      Seine Rede rief beträchtliches Aufsehen hervor. Lars aber hatte nun einmal beschlossen, Ruhe zu bewahren – komme, was da wolle. Deshalb erwiderte er lächelnd, wenn er sich recht erinnere, sei Knud Aakre eifrig für die Eisenbahn eingetreten, und von ihm würde wohl niemand behaupten, daß er sich aufs Spekulieren verstehe. (Man lachte ein wenig.) Knud habe nichts dagegen gehabt, daß wegen der Eisenbahn die Toten anderer Leute umgebettet werden sollten. Doch wenn sein eigener Großvater wieder ausgegraben werden müsse, dann werde daraus plötzlich eine lebenswichtige Angelegenheit für die gesamte Gemeinde.

      Mehr sagte er nicht, sondern blickte grinsend zu Knud hinüber, was auch noch einige andere taten.

      Knud Aakre überraschte jedoch sowohl ihn als auch die anderen, als er darauf entgegnete: „Ich gebe zu, ich habe das Ganze erst begriffen, als es mein Familiengefühl berührte. Vielleicht ist das eine Schande, aber dann ist es wahrhaftig eine noch viel größere, es auch jetzt immer noch nicht begreifen zu wollen, so wie es bei Lars der Fall ist! Nie“, fügte er hinzu, „ist dessen Humor weniger angebracht gewesen, denn für Leute mit normalem Gefühl ist diese Geschichte wirklich empörend!“

      „Dieses Gefühl ist ziemlich spät bei dir erwacht“, erwiderte Lars, „wir dürfen also hoffen, daß es auch ebenso schnell wieder vergeht. Vielleicht hilft es, dabei auch ein wenig daran zu denken, was Pfarrer, Propst, Stiftsdirektion, Ingenieure und Regierung wohl sagen würden, wenn sie hörten, daß wir die Sache erst einstimmig beschlossen haben und dann angelaufen kommen und darum betteln, sie wieder rückgängig zu machen. Daß wir erst jubeln und Lieder singen und dann weinen und Leichenpredigten halten. Falls sie nicht sagen, wir hätten hier im Dorf völlig den Verstand verloren, würden sie doch zumindest sagen, wir seien in den letzten Tagen reichlich wunderlich geworden.“

      „Ja, weiß Gott, das würden sie sagen“, ergriff Knud wieder das Wort, „wir sind in der Tat in den letzten Tagen reichlich wunderlich geworden, und es wird Zeit, daß wir uns wieder besinnen. Es ist wirklich weit gekommen, wenn wir unsere Großväter, du deinen und ich meinen, wieder ausgraben müssen, um der Eisenbahn einen Weg zu verschaffen, wenn wir die Ruhestätten der Toten umbrechen müssen, um schneller voranzukommen. Denn ist dies nicht dasselbe, als pflügten wir unseren Friedhof um, damit er uns Nahrung bringt? Was im Namen Gottes in die Erde gesenkt worden ist, das graben wir um des Mammons willen, in Molochs Namen wieder aus. Das ist nicht viel besser, als verzehrte man die Gebeine seiner Vorfahren.“

      Lars erwiderte trocken: „So ist nun mal der Lauf der Natur.“

      „Ja, der der Pflanzen und aller Kreatur.“

      „Sind wir denn nicht auch Kreaturen?“

      „Gewiß, aber auch Kinder des lebendigen Gottes, die ihre Toten im Glauben an ihn beerdigt haben. Er ist es, der sie einmal erwecken soll, und nicht wir.“

      „Ach, wie du faselst! Müssen wir sie denn nicht sowieso ausgraben, wenn ihre Zeit einmal gekommen ist? Was ist denn Schlimmes dabei, wenn es nun ein paar Jahre früher geschieht?“

      „Das werde ich dir sagen! Das, was sie in die Welt gesetzt haben, atmet noch, was sie gebaut haben, steht noch, was sie geliebt, was sie gelehrt und wofür sie gelitten haben, ist noch in uns und um uns her lebendig, und da sollten wir sie nicht in Frieden ruhen lassen?“

      „Ich höre schon, du denkst dabei an deinen Großvater“, antwortete Lars, „darum bist du so in Hitze geraten. Da muß ich dir aber sagen, es wird Zeit, daß die Gemeinde endlich Ruhe vor ihm bekommt. Er hat schon zu Lebzeiten genug Raum beansprucht. Deshalb ist es nicht nötig, daß er uns auch jetzt noch, da er tot ist, im Wege steht. Sollte sich selbst noch seine Leiche als Hindernis für einen Segen erweisen, der sich für die Gemeinde bis ins hundertste Glied auszahlen würde, dann muß man allerdings sagen, daß er von allen, die hier geboren worden sind, den größten Schaden angerichtet hat.“

      Knud Aakre warf das störrische Haar zurück, seine Augen funkelten, die ganze Gestalt glich einer gespannten Stahlfeder.

      „Wie es um den Segen bestellt ist, von dem du sprichst, weiß ich schon. Er ist von derselben Art wie all die anderen Segnungen, mit denen du die Gemeinde bedacht hast, nämlich von zweifelhafter Art. Denn du hast uns wohl zu einer neuen Kirche verholfen, aber sie auch mit einem neuen Geist erfüllt, und das ist nicht der Geist der Liebe. Du hast uns wohl zu neuen Wegen verholfen, aber auch zu neuen Wegen ins Verderben, wie man nun deutlich am Unglück so vieler sieht. Du hast wohl unsere öffentlichen Abgaben verringert, dafür hast du aber jene erhöht, die wir uns selber auferlegen. Prozesse, Wechsel und Zwangsversteigerungen sind kein fruchtbringendes Geschenk für eine Gemeinde. Und du wagst es, den Mann in seinem Grab zu verunglimpfen, den die ganze Gemeinde ihren Wohltäter nennt? Du wagst es, zu behaupten, er stehe uns im Wege? Ja, dir steht er ganz gewiß im Wege, wie man nun sieht, denn über dieses Grab wirst du fallen! Der Geist, der über dich und bis heute auch über uns Macht hatte, ist nicht zum Herrschen geboren, sondern nur zum Sklavendienst. Der Friedhof wird ungestört dort liegenbleiben, nur erhält er heute noch ein Grab mehr, nämlich das deines Ansehens in der Gemeinde, das nun in die Grube fährt!“

      Lars Høgstad erhob sich, weiß wie ein Laken. Er öffnete den Mund, ohne ein Wort hervorbringen zu können, und der Strohhalm entfiel ihm. Nach drei, vier vergeblichen Versuchen, ihn wiederzufinden und etwas zu erwidern, brach es vulkanartig aus ihm hervor: „Ist das der Dank für all meine Mühe und Arbeit? Ein solcher Weiberprediger soll hier zu bestimmen haben? Ja, da soll doch der Teufel euer Vorsitzender sein, ich werde meinen Fuß nie wieder hierher setzen. Bis heute habe ich alles zusammengehalten, euren ganzen Plunder, und nach mir wird alles in tausend Stücke zerfallen, aber soll doch alles zusammenbrechen! Hier ist das Protokoll.“ Er schleuderte es auf den Tisch.

      „Pfui über eine solche Versammlung von alten Weibern und grünen Jungen!“ Er schlug auf den Tisch. „Pfui über die ganze Gemeinde, die mit ansieht, daß ein Mann so abgespeist wird, wie ich jetzt!“ Wieder schlug er auf den großen Versammlungstisch, daß die Platte hochsprang und das Tintenfaß mitsamt Inhalt auf den Fußboden fiel, wo nun ein Fleck für kommende Generationen den Ort kennzeichnete, an dem Lars Høgstad mit all seiner Klugheit, Beherrschung und Geduld am Ende war.

      Er stürzte zur Tür hinaus, und gleich darauf war er vom Hof. Im Raum war es noch immer totenstill, denn die Gewalt seiner Stimme und seines Zornes hatte alle erschreckt, bis Knud Aakre, der Worte gedenkend, die er bei seinem Sturz zu hören bekommen hatte, mit pfiffigem Gesicht und Lars’ Stimme sagte: „Damit ist die Sache also beschlossen!“ Da brach die ganze Versammlung in ungeheuren Jubel aus. Die ernsthafte Sitzung schlug mit einemmal in Lachen und Reden und ausgelassene Freude um. Nur wenige gingen, die Zurückbleibenden aber holten zu ihrem Proviant die Flaschen hervor und veranstalteten nach einem Tag voller Wetterleuchten einen donnernden Festabend. Sie fühlten sich glücklich und selbständig wie in alten Zeiten,

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