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Rossi. Ulf Kramer
Читать онлайн.Название Rossi
Год выпуска 0
isbn 9783895338670
Автор произведения Ulf Kramer
Жанр Сделай Сам
Издательство Bookwire
Vierter Satz, 0:0. Roßkopf schlägt auf. Saive retourniert ins Netz. Die Menge brüllt vor Freude. Es ist ein Irrenhaus. Roßkopfs Körpersprache sagt alles. Zwischen den Ballwechseln tänzelt er durch die Box, ist immer in Bewegung. Auf den Rängen sitzt auch kaum noch jemand. Die meisten anderen Topspieler sitzen ebenfalls im Publikum. Viele von ihnen mussten ihre Hoffnungen auf den Titel gegen einen der beiden Finalisten begraben.
Der vierte Satz ist zuerst offen. Saive gilt nicht umsonst wie Roßkopf als großer Kämpfer. Ein EM-Finale schreibt er nicht einfach ab, nur weil zu diesem Zeitpunkt schon vieles gegen ihn spricht. Aus einem 6:6 macht Roßkopf ein 9:6. So geht es weiter. Nach dem Punkt zum 14:9 muss Saive einmal tief durchatmen, während Rossi die Faust ballt. Langsam wird es eng für den Belgier. Er kommt auf 14:11 heran, dann schlägt Roßkopf einmal mehr mit einer harten Rückhand zu. Er führt mit vier Punkten. Der nächste Ballwechsel scheint schnell an Saive zu gehen, doch Roßkopf zeigt an, der Ball habe beim Aufschlag das Netz berührt. Die Schiedsrichter haben nichts gesehen, doch der Punkt wird ohne Proteste sofort wiederholt. So ist das im Tischtennis. Auch in einem großen Finale bleibt es fair.
Bei 17:13 serviert Roßkopf. Das Publikum begleitet jeden Punktgewinn mit einem Aufschrei. 18:13, 19:13 und wieder einer dieser wahnsinnigen Rückhandbälle von Roßkopf. Matchball! Auf der Bank wird schon gejubelt, werden Fäuste nach oben gestreckt. Roßkopf schaut vor seinem letzten Aufschlag noch einmal konzentriert auf den Ball. Der Ablauf ist tausendfach geübt und automatisiert, doch noch nie zuvor hat Rossi zum Gewinn der Europameisterschaft serviert. Vorhand parallel, und Roßkopf fällt zu Boden, macht eine Rolle rückwärts und bleibt einige Sekunden am Boden liegen. Der Hallensprecher sagt die Worte: »Der Sieger der Europameisterschaften 1992 – Jörg Roßkopf.«
Ob Rossi das da auf dem Boden liegend realisiert? Klaus Schmittinger hilft ihm auf. Handshake mit Saive, dann gratulieren Zlatko Cordas und Steffen Fetzner. Was geht in Roßkopf vor? Er weiß es heute selbst nicht mehr genau. Kaum hat er den Matchball verwandelt, steht auch schon jemand mit einem Mikrofon vor ihm. Er soll ein paar Worte sagen. Sein erster Dank geht an das Publikum – natürlich. Die machen einen unglaublichen Krawall auf der Tribüne. Danach folgt der Marathon der Glückwünsche und Umarmungen. Roßkopf hat kaum Gelegenheit durchzuatmen. Das Bewusstsein, etwas Außergewöhnliches erreicht zu haben, kommt ihm erst auf dem Treppchen bei der Siegerehrung – während der Nationalhymne mit dem extrem kleinen Siegerpokal in der Hand. Im Publikum erkennt er Freunde und Bekannte aus seinem Heimatverein der DJK Blau-Weiß Münster, die mit dem Bus zum Finaltag nach Stuttgart gekommen sind. Unter ihnen ist auch Dietmar Günther, den er vor dem Spiel nicht wahrgenommen hat. Erst jetzt mit dem Pokal in der Hand fällt der Druck ab, wird der Blick wieder klar, dringt die Gewissheit durch, tatsächlich Europameister zu sein. Kein Waldner, kein Persson, kein Grubba, sondern der damals 22-jährige Jörg Roßkopf.
Erst die EM im eigenen Land ist trotz der vorherigen Erfolge der endgültige Durchbruch für Roßkopf als Spitzenspieler im Einzel. Zum einen ist der Respekt der Tischtenniselite vor dem Hessen enorm gewachsen. Jedem ist nun bewusst, wie schwer es ist, Jörg Roßkopf zu schlagen, wie groß sein Siegeswille ist, sein Ehrgeiz und seine enorm zielgerichtete Einstellung. Sein Ansehen ist so groß wie nie, und auch das deutsche Tischtennis gewinnt mit Roßkopfs Erfolgen zunehmend an Stellenwert – zum ersten Mal seit den Zeiten eines Eberhard Schöler. Zum anderen bringt der Erfolg Roßkopf die persönliche Erkenntnis, die Großen der Szene auch auf einer Bühne wie der Europameisterschaft schlagen zu können. Das ist für das Selbstbewusstsein enorm wichtig, vor allem in einem Sport, bei dem es meist nur um Nuancen, um Millimeter geht und mentale Stärke oft über Sieg und Niederlage entscheidet.
Mit dem EM-Titel ist Roßkopfs Hunger nach Erfolgen nicht etwa gestillt, sondern erst geweckt, wie er kurz nach den Europameisterschaften bei den Olympischen Spielen beweisen sollte. Der Linkshänder ist mit seinem aggressiven Offensivspiel, geprägt von starken Vorhand- wie Rückhandtopspins, einer der Vertreter einer neuen Generation europäischer Spitzenspieler. Roßkopfs Wille, seine Arbeitseinstellung und Professionalität, der kraftvolle Spielstil und die herausragende Rückhand – gern als Peitsche bezeichnet – sollten zu seinen Markenzeichen werden und ihm eine führende Rolle im Welttischtennis in den kommenden 15 Jahren garantieren.
KAPITEL 2
»Er hat nie irgendeinen
Blödsinn gemacht«
Die Jugend
»Ich war in meiner Jugend so gut wie nie verletzt, habe früh Erfolge feiern können, es ging stetig bergauf«, erzählt mir Jörg Roßkopf am Telefon. »Klar kam auch die eine oder andere Niederlage, die wehgetan hat, aber für mich war das nur Anreiz, weiterzuarbeiten.«
Dann klingelt es bei mir an der Tür, mein Hund springt auf und bellt wie ein Verrückter.
»Herr Rossi, halt die Klappe«, rufe ich und stutze. Am anderen Ende der Leitung verstummt auch Roßkopf. Nur mein Hund kläfft ungerührt weiter.
»Ich meine nicht dich«, sage ich, »mein Hund heißt Herr Rossi.«
Roßkopf lacht. »Herr Rossi sucht das Glück, verstehe«, sagt er.
Seinen Spitznamen »Rossi« hat er schon als kleiner Junge erhalten. Einen Bezug zur italienischen Zeichentrickfigur aus den siebziger Jahren gibt es nicht. Bis heute nennen ihn viele Freunde, Bekannte und Spieler so.
Ich selbst hatte nie einen Spitznamen, dafür ist mein Vorname zu kurz und der Nachname zu normal. Auch sonst gibt es keine wirklichen Parallelen zwischen mir und Rossi, mit einer Ausnahme. Wir kommen beide aus einer Tischtennisfamilie. Allein meine Mutter weiß mit einem Schläger nichts anzufangen, sonst sind mein Vater, meine Geschwister und ich, das gescheiterte Talent der Sippe, der Zelluloidkugel verfallen. Tischtennis ist in solchen Familien Dauerbrenner. Da werden die Ergebnisse des letzten Spieltags besprochen, wird über Beläge diskutiert, das Training koordiniert (Mama fährt hin, Papa holt ab), die Technik des Rückhand-Topspins kritisiert, Vorbilder genannt und die Trikotfarbe der Damenmannschaft gelobt.
Auch bei der Familie Roßkopf mit den Brüdern Thomas und Jörg drehte sich alles um den kleinen weißen Ball. Am Wochenende wurden die Sporttaschen gepackt, Beläge geklebt und fast die gesamte freie Zeit in Turnhallen verbracht. Der Verein wird schnell zu einer zweiten Heimat, man hat dort seine Vertrauten und Freunde, kennt die Abläufe und ist Teil eines eigenständigen Systems. Die Arbeit und Leistungen der Vereine im Breitensport sind nicht hoch genug einzuschätzen. Dort entstehen oft enge Gemeinschaften, die Mitglieder werden zu gegenseitigen Wegbegleitern auch weit über den Sport hinaus. Obwohl Tischtennis als Einzelsportart gilt, ist gerade das Vereinswesen in diesem Sport stark ausgeprägt. Das Mannschaftsgefühl ist bei Meisterschaftsspielen in den Ligen oft ebenso präsent wie bei klassischen Teamsportarten. Spiele der Freunde werden nervös beobachtet, Punkte beklatscht, es wird für die Mannschaft gestritten und gejubelt, mitgefiebert und am Ende oft zusammen gefeiert. Das werden viele kennen. Im Anschluss an die Spiele hockt man beieinander und spricht alles noch einmal durch. Jedes Detail kann schier endlos diskutiert werden. Nach einem Wochenende liegen dann montags die Wäscheberge im Keller, während bereits das Training für die nächsten Tage geplant wird. Das ist Alltag in vielen Familien. Doch zu den Roßkopfs gibt es natürlich den einen entscheidenden Unterschied: Der kleine Jörg wird eine große Karriere hinlegen, und das bahnt sich recht früh an.
Angefangen hat er mit fünf Jahren in seiner Heimatstadt bei der DJK Blau-Weiß Münster in Hessen. Das 15.000-Einwohner-Örtchen im Rhein-Main-Gebiet