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Rossi. Ulf Kramer
Читать онлайн.Название Rossi
Год выпуска 0
isbn 9783895338670
Автор произведения Ulf Kramer
Жанр Сделай Сам
Издательство Bookwire
Der Europameister von 1988 und 1990, Mikael Appelgren, ist raus! Stattdessen steht der englische Abwehrspieler Chen Xinhua im Viertelfinale. Das Spielsystem des gebürtigen Chinesen hat Jörg Roßkopf immer gelegen, und der klare 3:0-Sieg überrascht keinen. Anders läuft das zweite Viertelfinale zwischen Jan-Ove Waldner und dem Kroaten Zoran Primorac. In einem spannenden Spiel gelingt dem Kroaten eine kleine Sensation, denn er räumt den großen Favoriten in fünf Sätzen aus dem Weg. Keiner der großen Schweden, die seit 1982 alle Europameister gestellt haben, hat also das Halbfinale erreicht. Stattdessen finden sich dort ein Pole, ein Belgier, ein Kroate und ein Deutscher – ein Indiz für die ungeheure Dichte von Weltklassespielern in Europa in den neunziger Jahren. Den Sieger einer Europameisterschaft zu tippen, war damals ein riskantes Geschäft. Selbst ein überragendes Talent wie Jan-Ove Waldner gelang nur 1996 der Triumph bei einer EM. Das machte den Reiz der großen Turniere aus. Die Spieler kannten sich gut, wussten um ihre Stärken und Schwächen und trieben sich aufgrund des hohen Konkurrenzkampfes zu immer stärkeren Leistungen an.
Die Ausgangslage für Roßkopf ist nach dem Viertelfinale plötzlich eine ganz andere. Statt Waldner wartet Primorac und das lässt die Erwartungen steigen, denn von den vier Halbfinalisten hat noch keiner einen großen Titel geholt. Wieso also nicht Roßkopf? Womöglich hätte man seine Chancen anders eingeschätzt, hätte die Öffentlichkeit von seiner Verletzung gewusst. Eine Zerrung im Arm behindert ihn, zwischenzeitlich muss er das Training aussetzen. Doch davon haben nur die medizinische Abteilung und der Trainerstab Kenntnis. Er möchte keine Entschuldigungen für die Niederlagen in der Mannschaft und im Doppel suchen. Außerdem ist Tischtennis Kopfsache. Seine Gegner sollen nicht von seiner kleinen Schwäche wissen, schon gar nicht gegen Ende des Turniers. Er steht im Halbfinale. So eine Chance will er sich nicht nehmen lassen oder sie durch zu viel Gerede über ein eventuelles Handicap schmälern.
Das Spiel gegen Primorac verläuft ähnlich wie das Achtelfinale. Zwar gewinnt Roßkopf den ersten Satz, doch die nächsten beiden Durchgänge gehen verloren. Er ist so nah dran am Einzug ins Finale bei seiner Heim-EM, aber Primorac wirkt in dieser Phase des Spiels überlegen. Trotz des frenetischen Engagements des Publikums gelingt es dem Kroaten immer wieder, das druckvolle Spiel Roßkopfs zu kontern. Bei 14:14 scheint alles ausgeglichen, doch die nächsten drei Punkte gehen an Zoki, wie ihn die Kollegen nennen. 1:2 nach Sätzen und 14:17 bei Aufschlag Primorac. Auf den Rängen macht sich Sorge breit, der Traum vom deutschen Europameister könnte platzen. Am Ende stünden ein dritter Platz in der Mannschaft sowie im Einzel. Nach den gestiegenen Erwartungen der letzten Jahre zu wenig für eine Europameisterschaft im eigenen Land.
Doch daran denkt Roßkopf in diesem Moment nicht. Was interessieren ihn die vergangenen Tage? Das Spiel hier und jetzt zählt, und um das wird er bis zum letzten Ballwechsel kämpfen. »Primorac wusste, dass die letzten Punkte für ihn die schwersten werden würden«, sagt Roßkopf rückblickend. Getrieben von den Fans kommt er zurück, führt 20:18. Mit einer harten Rückhand, einem so typischen Schlag für ihn, holt er sich den Satz. Der Vorteil liegt nun klar auf seiner Seite, und er nutzt ihn. Zwar gestaltet Primorac das Spiel noch lange offen, doch er kann Roßkopf nicht mehr halten. Der Deutsche zieht mit 21:16 ins Finale von Stuttgart. Mit diesem Spiel ist die EM plötzlich ein riesiger Erfolg – schon jetzt. Die nicht immer idealen Leistungen der Doppelkonkurrenz und des Mannschaftswettbewerbs interessieren nur noch wenige. So schnell geht das im Sport. Siege ersticken jede Kritik.
Tischtennis hatte sich in den Jahren zuvor verändert, erlebte einen wahren Boom. Roßkopf ist der Vorreiter in Deutschland. Auf ihn projizieren sich die Erwartungen von Verband, Sponsoren und Zuschauern. Der Europameistertitel wäre für alle die Krönung der vergangenen fetten Jahre und Aussicht auf mehr. Der Aufwärtstrend soll fortgesetzt werden, obwohl einige bereits ahnen, dass es nicht einfach wird, den Hype von 1989 am Leben zu halten. Für Roßkopf ist das alles im Moment nebensächlich. Vor dem bisher größten Einzel seiner Karriere denkt er nicht an Verband, Sponsoren und Verträge. Ihn treiben sein Ehrgeiz und der Hunger auf diesen Titel.
Die Vorbereitung auf das Spiel der Spiele läuft ab wie immer, ist längst ein festes Ritual, das Roßkopf auch vor einem Finale nicht verändert. Anfahrt vom Hotel zur Halle, Beläge kleben und einspielen. »Wichtig sind die vertrauten Leute in der Nähe sowie ein bisschen Ruhe vor dem Spiel«, sagt er. Nach der letzten taktischen Absprache mit den Trainern klebt Roßkopf noch einmal seine Beläge, wärmt sich auf, um auf Betriebstemperatur zu kommen, und wirft einen kurzen Blick in die Halle. So holt er sich einen ersten Eindruck, versucht, die Stimmung aufzunehmen. Alle freuen sich auf das Traumfinale mit ihrem Star Jörg Roßkopf. Er kennt inzwischen die Situation, vor mehreren tausend Anhängern zu spielen. Doch vor einem Spiel baut er eine innere Distanz auf, will die Emotionen nicht zu nah an sich herankommen lassen. Das ist wichtig, um die Kontrolle zu behalten, vor allem in negativen Momenten. Er hat in wichtigen Spielen nie seinen Schläger vor Frust gegen den Tisch geschlagen, nie laut seiner Wut Luft gemacht. Das hätte der Gegner als Schwäche interpre tieren können. Sobald jemand merkt, dass man verängstigt ist, womöglich der Druck überhand nimmt, wird das Spiel unermesslich schwer. Roßkopf will dem Mann auf der anderen Seite in die Augen schauen und dabei seine Stärke demonstrieren. »Ich habe oft die Gegner zwischen den Ballwechseln beobachtet und nach Hinweisen auf Verunsicherung gesucht«, sagt er heute. »Ich selbst habe nie Angst vor einem Spiel gehabt.«
So ist es auch vor seinem bisher größten Duell, der Chance auf einen großen Titel im Einzel. Der Gedanke, was nach einer möglichen Niederlage passieren und in den Zeitungen stehen könnte, ist ihm während seiner Karriere nie gekommen. Er spielt nicht um gute Schlagzeilen, für die Statistik oder um große Popularität. Das alles ist eine Folge, die Siege mit sich bringen, aber nicht Triebfeder seines Spiels. Roßkopf möchte das Maximum aus seinen Möglichkeiten machen, das ist sein Ehrgeiz. Sollte ihn dennoch ein Gegner schlagen, kann Roßkopf mit gutem Gewissen die bessere Leistung des anderen anerkennen – so wie er es wenige Monate später bei den Olympischen Spielen in Barcelona erleben sollte.
Vor dem Finale von Stuttgart ist eine Niederlage keine Variante in Roßkopfs Gedanken. »Ich wusste, dass mich heute niemand schlagen würde«, erinnert sich. »Das habe ich gespürt.« Form und Selbstvertrauen stimmen, die Zuschauer stehen voll hinter ihm. Nach den schweren Aufgaben gegen Korbel und Primorac geht er zum ersten Mal mit der festen Überzeugung ins Spiel, nur als Sieger den Tisch wieder zu verlassen. Alle Krisen der letzten Tage mit Verletzung, Problemen in den Mannschaftswettbewerben und dem enttäuschenden Aus im Doppel sind vergessen.
Als Jörg Roßkopf die Halle betritt, ist er schon im Tunnel. Was rechts und links um ihn herum geschieht, nimmt er kaum wahr. Nur das Spiel ist präsent. Sein Jugendfreund Dietmar Günther ist mit vielen anderen aus der alten Heimat nach Stuttgart gereist und sitzt auf der Tribüne. Er klatscht Roßkopf beim Einzug in die Halle sogar noch ab. »Der hat gar nichts mehr mitbekommen«, bemerkt Günther. Tatsächlich weiß Roßkopf nach dem Spiel nichts von der Aufmunterung seines Freundes. Weder bekannte Gesichter noch seine Freundin Sabine, die spätere Ehefrau, dringen zu ihm durch.
Die Euphorie der Zuschauer und das Auftreten Roßkopfs können auch an Jean-Michel Saive nicht vorbeigegangen sein. Die Atmosphäre in der Halle ist berauschend. Wie schwer muss es sein, gegen 10.000 Fans zu spielen? Der Belgier ahnt, wie hart es wird, da ist sich Roßkopf sicher. Natürlich hat er Respekt vor Saive, der auf dem Weg durchs Turnier Männer wie Kalinikos Kreanga, Jean-Philippe Gatien und im Halbfinale klar und deutlich den Polen Andrzej Grubba geschlagen hat. Doch das alles ist nicht entscheidend. »Mich kann heute keiner schlagen.« Immer wieder schießt Roßkopf dieser Gedanke durch den Kopf. Er will diesen Titel, und er wird ihn sich heute nicht mehr nehmen lassen.
Der erste Satz geht mit 21:16 an Roßkopf, den zweiten muss er mit 18:21 abgeben, fühlt sich dennoch zu stark, als dass er noch gefährdet werden könnte. Der verwandelte Satzball im dritten zum 21:13 versetzt die Halle endgültig in Ekstase. Die Welle läuft über die Ränge, es gibt kein Halten mehr. Im Rückblick wirkt es beinahe übertrieben, als Aneinanderreihung von Superlativen, doch es ist wirklich so. Was in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle abgeht, ist unglaublich. Teamcoach Zlatko Cordas und Jörg Roßkopf beratschlagen sich kurz. Ob Rossi bei dem Lärm von den Rängen noch etwas