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jedes Jahr schlachtet Malias Vater am Weihnachtsmorgen eine Ziege und verteilt das Fleisch an Familienangehörige und Verwandte. Nach dem Weihnachtsessen toben die Kinder im Freien herum. Es ist sehr warm und die Kinder sind bald vollkommen verschwitzt. Malia ist ungewöhnlich ruhig. „Wo bloß mein Schnee bleibt?“, denkt sie bei sich.

      Dann bricht die Familie auf. Sie gehen von Haus zu Haus, wünschen frohe Weihnachten und verteilen kleine Geschenke. Malia wird langsam nervös. Gegen Abend sind immer mehr Leute unterwegs, um einander frohe Weihnachten zu wünschen. Es wird gelacht, gesungen und getanzt.

      Malia zupft ihren Vater am Ärmel. „Papa, sollen wir nicht langsam nach Hause gehen? Was ist, wenn der Schnee kommt, und ich bin nicht zu Hause?“ fragt sie.

      Der Vater ist ungehalten. „Ach, gib doch endlich Ruhe mit deinem Schnee! Es gibt hier keinen Schnee und ich will nichts mehr davon hören!“

      Von da an schweigt das Mädchen. Alle feiern ausgelassen, doch Malia ist traurig.

      Spät am Abend geht die Familie heim. Die Kinder sind müde und die Mutter trägt Malias kleinen, schlafenden Bruder Timo am Rücken. Als sie um die Ecke biegen und von Weitem ihr Haus sehen, bleiben alle fassungslos stehen. Zuerst bringt keiner ein Wort heraus. Doch dann ertönt ein Schrei.

      „Der Schnee ist da!“, ruft Malia, so laut sie kann und läuft auf ihr Haus zu. Tatsächlich! Über dem Haus und dem Hof von Malias Familie schneit es! Dicke weiße Flocken fallen vom Himmel und am Dach liegt bereits eine dichte Schneedecke. Im Hof ist der Schnee schon knöcheltief.

      Alle anderen Häuser sehen aus wie immer, nur über dem Haus von Malia schneit es. Malia springt bereits im Schnee herum, lacht und jauchzt. „Schaut euch den Schnee an!“, ruft sie ihrer Familie überglücklich zu. „Wie schön kühl er ist!“ Malia wälzt sich im Schnee. Dann kostet sie ihn vorsichtig. „Naja, sehr süß ist er nicht“, muss sie gestehen und verzieht ein wenig das Gesicht.

      Dann kommt endlich die ganze Familie in den Hof. Die Eltern und der Großvater berühren zögerlich mit den Händen den Schnee und machen ein paar vorsichtige Schritte darin. Die beiden älteren Brüder stürzen sich auf den Schnee, laufen darin herum und werfen begeistert den Schnee in die Luft. Nur der kleine Bruder schläft ungerührt auf Mamas Rücken weiter.

      Am nächsten Tag herrscht Hochbetrieb im Hof. Es hat zu schneien aufgehört und Kinder und Erwachsene kommen vorbei, um das erste Mal in ihrem Leben Schnee zu sehen. Alle wollen ihn anfassen und viele kosten ihn auch heimlich, sind aber vom Geschmack dann meistens enttäuscht.

      „Wieso habt ihr Schnee, obwohl es so warm ist?“, fragen die Besucher, die in kurzen Hosen, T-Shirts und Sandalen im Schnee herumstapfen. „Und wieso liegt nur in eurem Hof Schnee?“

      „Das habt ihr nur meiner Schwester zu verdanken, die hat ihn sich gewünscht“, erklärt dann Malias ältester Bruder jedes Mal stolz – genau der Bruder, der Malia erst gestern wegen des Schnees gehänselt hat.

      Malia ist in ihrem Element. Mit dem Weihnachtsbuch der englischen Partnerschule geht sie im Hof herum und zeigt allen die Bilder. So lernen ihre Freunde und Freundinnen, wie man einen Schneemann baut und eine Schneeballschlacht macht. Gemeinsam mit den Erwachsenen schaffen es die Kinder sogar, den Schnee zu einem kleinen Rodelhügel zusammenzuschieben. Auf alten Plastiksäcken wird dann mit viel Lachen und Jauchzen wieder und wieder hinuntergerodelt.

      Das Schneewunder hält drei Tage lang. Die ganze Zeit über strahlt die Sonne vom Himmel und es ist sogar für Kenia ziemlich heiß für diese Jahreszeit. Wenn man sich ein bisschen schneller bewegt, kommt man schon ins Schwitzen.

      Trotzdem liegen auf dem Haus und im Hof immer noch die Schneemassen. Das ganze Dorf ist in Aufruhr. Jeder verbringt so viel Zeit wie möglich bei Malia, um sich im Schnee abzukühlen. Die Kinder stellen alle Szenen nach, die auf den Bildern in dem englischen Buch zu sehen sind. Am dritten Tag bauen alle gemeinsam ein großes Iglu. Im Hof herrscht von früh bis spät ein so reges Treiben wie auf einem Volksfest.

      Am vierten Tag jedoch beginnt der Schnee in der Früh zu tauen. Die Kinder wollen den Schnee festhalten, doch er ist bereits ein matschiger Brei. Am Nachmittag ist der ganze Schnee weggeschmolzen und nur ein paar große Wasserpfützen im Hof erinnern daran, dass er da war.

      „Jetzt ist dein ganzer schöner Schnee weg“, meint der Großvater und streicht Malia mitleidig übers Haar.

      „Macht nichts“, meint diese. „Es war doch schön, dass der Schnee drei Tage da war. Für mich war es das schönste Weihnachten meines Lebens.“

      „Dieses Weihnachten war wirklich ganz besonders schön“, stimmt der Großvater zu. „Im Dorf werden sich immer alle daran erinnern. Das war das Weihnachten, werden sie sagen, an dem uns die kleine Malia den Schnee geschenkt hat.“

      Andrea Kotorman wurde 1974 in Wien geboren, wo sie später Jura studierte. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Nähe Wiens, seit 1999 arbeitet sie beim Roten Kreuz als Juristin. Bereits als Jugendliche hat sie in ihrer Freizeit geschrieben und Kurzgeschichten wie Gedichte in Zeitschriften veröffentlicht. Später spezialisierte sie sich auf Erzählungen für Kinder und Jugendliche.

      *

      Wie das Christkind zum Christkind wurde

      Der Leiter des Waisenhauses taufte das kleine Mädchen, das ihnen jemand am 24. Dezember auf die Türschwelle legte, auf den Namen Christina. Man wusste nicht, woher es kam, und da niemand einen Anspruch auf das kleine Wesen vermeldete, blieb es einfach dort.

      Schreckliche Zustände herrschten in dem Waisenhaus, es war für alles zu wenig Geld da und unter den Kindern regierte das Gesetz der Straße. Wer sich nicht wehren konnte, ging unter. Es war keine Seltenheit, dass den Kleineren von den Größeren das Essen geraubt wurde, und man vermochte sich gar nicht vorzustellen, wie oft sich jemand sein Recht durch rohe Gewalt verschaffte.

      Doch trotz all der Kälte und Gefühllosigkeit um sich herum wuchs Christina zu einem hübschen und außerordentlich freundlichen jungen Mädchen heran. Sie besaß goldblondes, langes Haar und in allen Farbschattierungen funkelnde Augen.

      Sie war von sanftem, gütigem Charakter und vor allem für die Kleineren und Schwächeren hatte sie ein großes Herz. Und Schwache gab es im Kinderheim leider genügend.

      Am 24. Dezember wurde immer ihr Geburtstag gefeiert. Ach, welch trügerischer Ausdruck! Man konnte wohl kaum von einer Feier sprechen – es gab weder Kuchen noch wurde ein Geburtstagslied gesungen.

      Nicht einmal das heilige Weihnachtsfest wurde in irgendeiner Form gewürdigt. Es bestand einzig darin, dass alle Kinder unter Androhung von Stockschlägen an diesem Tag in die Kirche gehen mussten, auch diejenigen, die sonst nie gingen. Christina hingegen nahm stets gerne an der heiligen Messe teil und saß immer in der vordersten Reihe.

      Für sie war das Weihnachtsfest etwas Großes und Heiliges und es betrübte sie, dass es außer ihr niemand besonders wertschätzte.

      An Christinas elftem Geburtstag und somit ihrem elften Weihnachtsfest im Kinderheim wurde gegen Mittag auf einmal die kleine Luisa vermisst.

      Luisa war erst drei Jahre alt und immer sehr ungebärdig, weil sie grade erst ins Waisenhaus gekommen war. Sie hatte dunkle Korkenzieherlocken und braune Knopfaugen.

      Christina liebte dieses kleine Mädchen mehr als alle anderen, weil sie Luisas Mut bewunderte und oft davon träumte, gemeinsam mit ihr anderswo glücklicher zu sein als hier. „Wir müssen sie suchen“, flehte Christina den Heimleiter an. „Es friert draußen und sie wird es nicht lange überleben.“

      Der Heimleiter warf einen genervten Blick auf die Uhr. Seine Dienstzeit endete in einer Viertelstunde und er freute sich schon darauf, Weihnachten im Kreis seiner Familie zu verbringen. Die Waisenkinder waren ihm herzlich egal und das kleine, ungehorsame Mädchen ein besonderer Dorn im Auge, weil Luisa ständig für Unruhe sorgte, indem sie die anderen aufwiegelte.

      „Nein“,

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