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Grundlagen der Gemeindearmenpflege insofern geändert, als bei längerem Aufenthalt außerhalb der Heimatgemeinde nicht mehr diese, sondern die neue Aufenthaltsgemeinde, meist eine größere Stadt oder eine Industriegemeinde, zur Armenpflege verpflichtet wurde (vgl. Hornek 1917). Man kann darin eine langsame Überwindung der Verbindung von Staatsbürgerschaft und Heimatberechtigung sehen, durch welche die faktische Begrenzung des Bürger-Status schließlich aufgehoben wurde. Reste davon blieben noch bis in die Zweite Republik erhalten. Erst 1955 ersetzte der „Staatsbürgerschaftsnachweis“ den „Auszug aus der Heimatrolle“ (vgl. Rauchenberg 1893). Also, um auf Musil zurückzukommen – es gab eine gemeinsame Staatsbürgerschaft (alle waren schon Bürger!), aber zum Unterhalt von verarmten und arbeitsunfähigen Menschen waren weder der Staat noch ein Land, noch auch die Aufenthaltsgemeinde verpflichtet, sondern die Herkunftsgemeinde. Und dieses Recht auf Abschiebung (für die Wohngemeinde) bzw. die Pflicht zu Aufnahme und Pflege (durch die Zuständigkeitsgemeinde) bedeutete tatsächlich eine Einschränkung der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz: Wurde in Wien ein in Wien zuständiger Mensch arbeitslos, krank und erwerbsunfähig, dann hatte die wohlhabende Gemeinde Wien seinen Unterhalt zu sichern; wurde in Wien ein in Wien nicht zuständiger Mensch erwerbsunfähig, wurde er in seine womöglich in Böhmen, Galizien oder Dalmatien liegende – meist arme – Zuständigkeitsgemeinde abgeschoben. Da die Zuständigkeit auch erheiratet wurde, konnte es einer Wiener Witwe passieren, dass sie nach dem Tod ihres Mannes in dessen Heimatgemeinde abgeschoben wurde, wo sie keinen Menschen kannte und oft nicht einmal die Sprache der dortigen Menschen verstand. Mit dem Wachstum der Städte und Industriezonen wuchs das Problem (vgl. Blodig 1896). Gelöst wurde es erst in der Republik.

      Verfassung und Verwaltung

      Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger. Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, daß man es gewöhnlich geschlossen hielt; aber man hatte auch einen Notstandsparagraphen, mit dessen Hilfe man ohne das Parlament auskam, und jedesmal, wenn alles sich schon über den Absolutismus freute, ordnete die Krone an, daß nun doch wieder parlamentarisch regiert werden müsse. Solcher Geschehnisse gab es viele in diesem Staat, und zu ihnen gehörten auch jene nationalen Kämpfe, die mit Recht die Neugierde Europas auf sich zogen und heute ganz falsch dargestellt werden. Sie waren so heftig, daß ihretwegen die Staatsmaschine mehrmals im Jahr stockte und stillstand, aber in den Zwischenzeiten und Staatspausen kam man ausgezeichnet miteinander aus und tat, als ob nichts gewesen wäre. (Musil 2016a, 49 f.)

      Die Musil’sche Ironie bedient sich in genialer Weise diverser Paradoxien: liberale Verfassung – klerikale Regierung; klerikale Regierung – freisinniges Leben, willkommener Absolutismus – Parlamentarismus. Es würde viel zu weit führen, wollte man dem allen ,historisch‘ nachgehen. Außerdem können literarische Topoi wohl kaum als ,historische‘ Aussagen gelten – dennoch sind sie in ihren Verkürzungen enorm anregend im Hinblick auf weitere Nachfragen. Etwa die nach einer ,klerikalen‘ Regierung Kakaniens: In Ungarn war jedenfalls davon keine Rede, das ungarische Rechtssystem stellte sukzessive alle Religionen und Konfessionen gleich, alle ungarischen Regierungen waren in ihrer Distanz zur (katholischen) Kirche jedenfalls nach damaligen Maßstäben ,liberal‘ (obwohl sie dies keineswegs gegenüber den nichtmagyarischen Minderheiten waren). Aber auch in Österreich waren von 1867 bis 1879 liberale Regierungen am Werk, die die bisher unbestrittene Dominanz der katholischen Kirche kräftig zurückstutzten. Das änderte sich ein wenig unter dem Ministerpräsidenten Taaffe (1879–1893), in dessen Eisernem Ring die katholischkonservativen Parteien der Alpenländer eine wichtige Rolle spielten. Man hat jetzt auch die Klagen der Kapläne erhört, die über ihre karge ,Kongrua‘ (Entlohnung der Priester aus den Religionsfonds) jammerten. Aber richtig ,klerikal‘ waren weder Taaffe noch die meisten seiner Minister. Hingegen hielt der Kaiser streng an seinem Glauben fest. In der Regel waren auch die hohen Beamten alte oder neue ,Josephiner‘, zweifellos waren nur die wenigsten ,klerikal‘. Das änderte sich ab dem Aufkommen von Massenparteien, die mit dem neuen politischen Katholizismus verbunden waren, etwa den oberösterreichischen, steirischen oder salzburgischen Konservativen. Diese vertraten in der Regel in strittigen Fragen die Positionen der Bischöfe. Aber erst im 20. Jahrhundert wurde ein Mann aus diesen Parteien, der Oberösterreicher Ebenhoch, für kurze Zeit Minister. Ob die jüngeren Christlichsozialen, die nacheinander Vorarlberg, Tirol und Niederösterreich (mit Wien) eroberten, wirklich ,klerikal‘ waren? Tatsächlich waren sie eine Koalition, zu der neben protestierenden antisemitischen Kleinbürgern und Bauern auch Kapläne gehörten, aber keine Bischöfe. Das änderte sich grundlegend erst mit der Republik. Aber zweifellos war der Katholizismus zumindest in „Cisleithanien“ die privilegierte Konfession, die auch immer wieder ihr wichtige Positionen erfolgreich verteidigen konnte. Eine Zivilehe wie in Ungarn wurde in Cisleithanien eben nicht eingeführt. Daneben lebten freilich die Menschen zunehmend nach ihrer Fasson, und die wurde immer individualistischer und immer weniger von den Lehren der heiligen Kirche bestimmt – man lebte ,freisinnig‘. – Musils Ironie und seine Neigung zu Paradoxien führen uns in diesem Bereich doch ein wenig in die Irre – allerdings dann wieder nicht, wenn man das ,klerikale‘ Regime nicht in den Regierungen sucht, sondern in der sozialen Praxis etwa des Schulbetriebes, in dem die Verpflichtung zur Teilnahme an Gottesdiensten durchaus etwas Selbstverständliches war.

      Denk- und Verhaltensmuster – „österreichischer Charakter“ und „österreichischer Mensch“

      […] nicht nur die Abneigung gegen den Mitbürger war dort bis zum Gemeinschaftsgefühl gesteigert, sondern es nahm auch das Mißtrauen gegen die eigene Person und deren Schicksal den Charakter tiefer Selbstgewißheit an. Man handelte in diesem Land […] immer anders, als man dachte, oder dachte anders, als man handelte. Unkundige Beobachter haben das für Liebenswürdigkeit oder gar für Schwäche des ihrer Meinung nach österreichischen Charakters gehalten. Aber das war falsch […]. Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch einen privaten Charakter […]. (Musil 2016a, 50)

      Historiker meiden im Allgemeinen das glatte Eis einer kollektiven historischen Charakterologie oder Mentalitätsgeschichte, weil man es (erstens) beim Kollektiv „Österreicher“ historisch und gegenwärtig mit einer ungeheuren Menge von Individuen zu tun hat, die (zweitens) in verschiedenen Generations-Kohorten und (drittens) in höchst unterschiedlichen Berufen, familiären, materiellen und Bildungssituationen gelebt haben (und leben). Es ist äußerst fragwürdig, ob dieser höchst unterschiedlichen Ansammlung von Personen aller Altersstufen, von verschiedenem Geschlecht usw. irgendwelche mentale Gemeinsamkeiten eignen sollten. Alphons Lhotsky hat, bei genauerem Hinsehen, den „österreichischen Menschen“ ja auch nicht in der Masse der Bevölkerung gesehen, sondern – Hugo Hassinger zitierend – „einfühlende, verstehende, schmiegsame Kulturmenschen“, „berufene und geschulte Vertreter mitteleuropäischer Vermittlungsarbeit“. Sie sollen, wieder nach Hassinger, unter Staatsmännern, im Adel, in Offiziers- und Beamtenkreisen, in der Geistlichkeit, unter Künstlern, Gelehrten, Kaufleuten und auch in anderen Berufsständen, vorwiegend unter den deutschen, aber auch unter nichtdeutschen Österreichern“ vertreten gewesen sein (Lhotsky 1968, 434). Dieser „österreichische

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