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(vgl. Lhotsky 1968, 436).

      Noch eine Bemerkung zu den „Shakespeareschen Königreichen“ Lodomerien und Illyrien. Lodomerien hat es tatsächlich nie gegeben, man hatte es zu dem ebenso künstlichen „Galizien“ dazu erfunden, das ja bis 1772 ein Teil Polens war und dann habsburgisch wurde. Beide Namen verweisen auf mittelalterliche russische Fürstentümer (Halycz und Vladimir), die sich irgendwann in den ungarischen Königstitel verirrt hatten. Anders Illyrien: Das gab es staatsrechtlich schon, es wurde in den 1820er Jahren quasi in Nachfolge der Illyrischen Provinzen Frankreichs (1808–1814) geschaffen. Tatsächlich bestand es aus einigen getrennt verwalteten Teilen, mit Statthaltereien (Gubernien) in Laibach/Ljubljana (für Kärnten und Krain) und Triest (für das Küstenland), aber ohne irgendetwas sonstiges Gemeinsames. 1848 verschwand „Illyrien“ wieder von den Landkarten, ohne je ein eigenes staatsrechtliches Leben entwickelt zu haben (vgl. Haas 1958).

      Musil hat also in seiner ironischen Darstellung die staatsrechtlichen und gefühlsmäßigen Realitäten immer wieder – aber doch nicht immer! – in geschickten Formulierungen treffend umrissen. Dass die „Österreicher“ „keinen Begriff von sich hatten“, war wohl die Folge der österreichischen Staatstheorie der gemeinsamen Doppelmonarchie, die neben Ungarn die anderen (im Reichsrat vertretenen) Königreiche und Länder möglichst nicht als eigenen Staat auffassen wollte, sondern alle diese Länder ebenso wie Ungarn als Teile einer dritten Staatlichkeit, des (k. u. k.) „Über-Staates“ österreichisch-ungarische Monarchie ansahen, und diesem galt, soweit vorhanden, der Patriotismus der Bewohner der „österreichischen Reichshälfte“. Dass die Ungarn diese Staatstheorie ebenso vehement ablehnten, ist heute in Österreich weitgehend unbekannt. Für die nationalistischen unter ihnen (und das waren fast alle politisch Interessierten) gab es eben nur einen ungarischen Staat, der mit den übrigen (belanglosen) Territorien des ungarischen Königs in einem gewissen, nach Möglichkeit immer weiter zu lockernden Verhältnis stand. Der gemeinsame Kriegsminister stand nach dieser Auffassung nicht über den Regierungen in Wien und Budapest, sondern das Kriegsministerium war das gemeinsame Ministerium der ansonsten ganz „fremd“ nebeneinander bestehenden Staaten Ungarn und „Habsburgs nichtungarischer Rest“. Musil vertrat dagegen, wir haben oben schon darauf hingewiesen, bewusst oder unbewusst den „österreichischen“ Standpunkt einer gemeinsamen Staatlichkeit (vgl. Stourzh 1991, passim)

      Gehemmte Modernisierung oder europäische „Normalität“?

      Der Kakanien-Abschnitt im Mann ohne Eigenschaften vermittelt den Eindruck einer etwas gebremsten Modernisierung und einer nur moderaten Wirtschaftsentwicklung:

      Dort, in Kakanien, […] gab es auch Tempo, aber nicht zuviel Tempo. So oft man in der Fremde an dieses Land dachte, schwebte vor den Augen die Erinnerung an die weißen, breiten, wohlhabenden Straßen aus der Zeit der Fußmärsche und Extraposten, die es nach allen Richtungen wie Flüsse der Ordnung, wie Bänder aus hellem Soldatenzwillich durchzogen und die Länder mit dem papierweißen Arm der Verwaltung umschlangen. […] Natürlich rollten auf diesen Straßen auch Automobile; aber nicht zuviel Automobile! Man bereitete die Eroberung der Luft vor, auch hier; aber nicht zu intensiv. Man ließ hie und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren; aber nicht zu oft. […] Man gab Unsummen für das Heer aus; aber doch nur gerade so viel, daß man sicher die zweitschwächste der Großmächte blieb. Auch die Hauptstadt war um einiges kleiner als alle andern größten Städte der Welt, aber doch um ein Erkleckliches größer, als es bloß Großstädte sind. (Musil 2016a, 47 f.)

      Um gleich beim Letzten zu beginnen: Wien war um 1905 die viertgrößte Stadt Europas, nach London, Paris und Berlin, und die fünftgrößte der Welt – an der Spitze lag New York. Den fünften Platz teilte sich Wien übrigens mit Chicago (Hickmans Universal-Taschen-Atlas 1905, 25: Berlin: 2 Millionen, mit Vororten 2,85 Millionen; 31: Paris: 2,72 Millionen; 33: London: 4,6 Millionen; 39: Wien 1,88 Millionen; 63: New York: 3,72 Millionen; Grafik- und Kartenteil 25). Auf dem Kontinent lag Wien damals am dritten Platz. Die Musil-Lektüre vermittelt hier doch einen etwas „kleineren“ Eindruck. Vielleicht hat sich da während des Schreibens in den 1920er Jahren die inzwischen erfolgte Reduktion der früheren Reichshaupt- und Residenzstadt ausgewirkt?

      Sie stimmen soweit überein, dass

      – die Habsburgermonarchie aus wirtschaftlich sehr unterschiedlichen Regionen mit unterschiedlichen Wachstumschancen bestanden, unter denen die böhmischen Länder (heute: Tschechische Republik) und (danach) die heutigen österreichischen Länder sich rascher entwickelten als andere;

      – das stetige Wachstum (= Industrialisierung) um etwa 1825/30 eingesetzt habe, aber eine eindeutige „take-off“-Phase (wie in Großbritannien oder in Preußen) nicht nachweisbar sei;

      – die Wachstumsraten bis um 1870 hinter dem Durchschnitt Europas lagen, dass jedoch danach ein Aufholprozess stattgefunden habe, der in Ungarn besonders stark ausgeprägt war. Die westliche Reichshälfte („Cisleithanien“) habe vor 1914 ein Pro-Kopf-Einkommen erreicht, das knapp unter dem Italiens, aber vor Spanien und Russland lag;

      – man daher das Wachstumsmuster der Habsburgermonarchie weder mit England noch mit Preußen vergleichen könne, als vielmehr mit Frankreich, das einen ähnlichen, langsamen aber dauerhaften Modernisierungsprozess durchlief (vgl. Matis 1991, 113).

      Der Eindruck, den Musils Kakanien-Kapitel im Hinblick auf die ökonomische

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