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Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Arthur Conan Doyle
Читать онлайн.Название Die Abenteuer des Sherlock Holmes
Год выпуска 0
isbn 9783955012373
Автор произведения Arthur Conan Doyle
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Er zuckte mit den Schultern. »Nun ja, vielleicht ist es am Ende irgendwie nützlich«, meinte er. »›L' homme n'est rien – l'oeuvre tout‹, wie Gustave Flaubert an George Sand schrieb.«
Eine Frage der Identität
»Mein lieber Freund«, sagte Sherlock Holmes, als wir beiderseits des Feuers in seiner Wohnung in der Baker Street saßen, »das Leben ist viel seltsamer als alles, was der Geist des Menschen erfinden könnte. Wir würden es nie wagen, uns manche Dinge auszudenken, die tatsächlich doch nur simple Gemeinplätze des Daseins darstellen. Wenn wir Hand in Hand aus diesem Fenster fliegen könnten, um über dieser großen Stadt zu schweben, sachte die Dächer zu entfernen und all die merkwürdigen Dinge auszuspähen, die sich ereignen, die seltsamen Zufälligkeiten, das Pläneschmieden, die einander entgegengesetzten Absichten, die wunderbare Kette der Ereignisse, die über Generationen hinweg wirksam wird und zu den ausgefallensten Ergebnissen führt, dann würde das alle Dichtung mit ihren Konventionen und voraussehbaren Schlüssen überaus schal und unersprießlich machen.«
»Und dennoch bin ich davon nicht überzeugt«, antwortete ich. »Die Fälle, die in den Zeitungen ans Tageslicht gelangen, sind in der Regel ziemlich dürftig und reichlich vulgär. In unseren Polizeiberichten findet sich bis auf die äußerste Spitze getriebener Realismus, und trotzdem muß man zugeben, daß das Ergebnis weder faszinierend noch künstlerisch befriedigend ist.«
»Wenn man einen realistischen Effekt hervorrufen will, muß man schon eine gewisse Willkür walten lassen und eine Auslese vornehmen«, bemerkte Holmes. »Das fehlt im Polizeibericht, wo vielleicht auf die Platitüden des Behördenwegs mehr Wert gelegt wird als auf die Einzelheiten, in denen ein Beobachter die wirklich wichtige Essenz der ganzen Angelegenheit erblickt. Verlassen Sie sich darauf: Nichts ist so unnatürlich wie das Gewöhnliche.«
Ich lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich begreife durchaus, wie Sie darauf kommen«, sagte ich. »In Ihrer Stellung als inoffizieller Berater und Helfer für jeden, der absolut ratlos ist, und zwar in drei Kontinenten, bekommen Sie es natürlich mit allem zu tun, was seltsam und bizarr ist. Aber hier« – ich hob die Morgenzeitung vom Fußboden auf – »sollten wir die Sache praktisch erproben. Hier, die erste Schlagzeile, auf die ich stoße. ›Grausamkeit eines Mannes gegenüber seiner Frau.‹ Es folgt eine halbe Druckspalte, aber ohne zu lesen weiß ich, daß mir das alles sehr vertraut ist. Natürlich finden wir da die andere Frau, Alkohol, Püffe, Schläge, Verletzungen, die mitleidige Schwester oder Wirtin. Der plumpeste Schriftsteller könnte nichts Plumperes erfinden.«
»Sie haben wirklich ein ausgesprochen unglückliches Beispiel für Ihre Behauptung gewählt«, sagte Holmes; er nahm die Zeitung und überflog sie. »Das ist der Scheidungsfall Dundas, und wie der Zufall es will, war ich an der Aufhellung einiger kleiner Punkte im Zusammenhang damit befaßt. Der Gatte war ein strenger Nichttrinker, es gab keine andere Frau, und das beklagte Verhalten bestand in seiner Gewohnheit, am Ende einer jeden Mahlzeit sein falsches Gebiß herauszunehmen und es nach seiner Frau zu werfen, was, wie Sie zugeben werden, nicht gerade eine Handlungsweise ist, wie sie einem durchschnittlichen Erzähler in den Sinn käme. Nehmen Sie eine Prise Schnupftabak, Doktor, und geben Sie zu, daß dieses Beispiel ein Punkt für mich ist.«
Er reichte mir seine Schnupftabaksdose aus Altgold, mit einem großen Amethysten in der Mitte des Deckels. Diese Pracht stand in einem so großen Gegensatz zu seinen schlichten Gewohnheiten und seinem einfachen Leben, daß ich einen Kommentar hierzu nicht unterdrücken konnte.
»Ah«, sagte er, »ich hatte vergessen, daß ich Sie einige Wochen lang nicht gesehen habe. Das ist ein kleines Souvenir des Königs von Böhmen als Gegenleistung für meine Hilfe im Fall Irene Adler.«
»Und der Ring?« fragte ich, wobei ich den bemerkenswerten Brillanten musterte, der an seinem Finger glitzerte.
»Der stammt von der holländischen Herrscherfamilie; die Angelegenheit, in der ich ihr zu Diensten war, war allerdings so delikat, daß ich sie nicht einmal Ihnen anvertrauen kann, obwohl Sie so freundlich waren, eines oder zwei meiner kleinen Probleme aufzuzeichnen.«
»Und? Beschäftigt Sie zur Zeit wieder ein Fall?« fragte ich interessiert.
»Vielleicht zehn oder zwölf, aber es ist nichts dabei, was besonders interessant wäre. Verstehen Sie – wichtig, ohne interessant zu sein. Übrigens habe ich festgestellt, daß es meistens die unwichtigen Fälle sind, die Gelegenheiten zu interessanten Beobachtungen und zur schnellen Analyse von Ursachen und Wirkungen bieten, die den Reiz einer Untersuchung ausmacht. Die größeren Verbrechen sind häufig die einfacheren, denn je größer das Verbrechen, desto offensichtlicher ist in der Regel das Motiv. Abgesehen von einer reichlich verwickelten Angelegenheit, die mir aus Marseille zugekommen ist, gibt es in keinem dieser augenblicklichen Fälle interessante Besonderheiten. Es wäre aber möglich, daß ich etwas Besseres in Händen habe, ehe allzu viel Zeit verstrichen ist; wenn ich mich nicht sehr irre, kommt nämlich da einer meiner Klienten.«
Er hatte sich von seinem Stuhl erhoben, stand zwischen den auseinandergezogenen Vorhängen und schaute hinab auf die fade, farblose Londoner Straße. Ich blickte über seine Schulter und sah, daß auf dem gegenüberliegenden Gehsteig eine große Frau stand, die eine schwere Pelzboa um den Nacken und eine lange, gekräuselte, rote Feder in einem breitkrempigen Hut trug, den sie in der koketten Art der Herzogin von Devonshire15 schräg über dem Ohr sitzen hatte. Unter diesem gewaltigen Helm warf sie nervöse, zögernde Blicke zu unseren Fenstern hinauf, während ihr Körper leicht vor und zurück schwankte und ihre Finger nervös mit den Knöpfen ihrer Handschuhe spielten. Plötzlich, mit einem förmlichen Eintauchen wie dem eines Schwimmers, der vom Ufer abstößt, eilte sie quer über die Straße, und wir hörten das schrille Klingeln der Glocke.
»Mir sind solche Symptome vertraut«, sagte Holmes. Er warf seine Zigarette ins Feuer. »Zögerndes Schwanken auf dem Gehsteig bedeutet immer eine affaire du coeur. Sie möchte einen Rat haben, ist aber nicht sicher, ob die Sache nicht allzu delikat ist, als daß man sie jemandem mitteilen könnte. Aber selbst hier gibt es noch Unterschiede. Wenn einer Frau von einem Mann schlimmes Unrecht zugefügt worden ist, dann schwankt sie nicht mehr, und das übliche Symptom ist ein zerrissener Klingelzug. Hier können wir aber davon ausgehen, daß es sich um eine Liebesangelegenheit handelt, daß die Maid aber weniger zornig denn verwirrt oder bekümmert ist. Aber da kommt sie persönlich, um uns aus unseren Zweifeln zu erlösen.«
Noch während er sprach, hörten wir ein Klopfen an der Tür, und der Hausbursche trat ein, um Miss Mary Sutherland anzukündigen; die Lady selbst ragte indessen hinter seiner kleinen schwarzen Gestalt auf wie ein Handelsschiff unter vollen Segeln hinter einem kleinen Lotsenboot. Sherlock Holmes hieß sie mit der ihm eigenen zwanglosen Höflichkeit willkommen, und nachdem er die Tür geschlossen und der Dame mit einer knappen Verneigung einen Lehnstuhl angeboten hatte, musterte er sie in der eingehenden und dennoch abstrakten Weise, die für ihn eigentümlich war.
»Finden Sie nicht«, sagte er, »daß bei Ihrer Kurzsichtigkeit das viele Maschineschreiben ein wenig anstrengend ist?«
»Am Anfang war es so«, antwortete sie, »aber inzwischen weiß ich auch ohne hinzusehen, wo die Buchstaben sind.« Dann ging ihr plötzlich die volle Bedeutung seiner Worte auf, sie fuhr heftig zusammen und sah hoch, mit Furcht und Staunen auf ihrem breiten, gutmütigen Gesicht. »Sie müssen schon von mir gehört haben, Mr. Holmes«, rief sie, »wie könnten Sie sonst all das wissen?«
»Beunruhigen Sie sich nicht«, sagte Holmes lachend, »Wissen gehört zu meiner Arbeit. Vielleicht habe ich mich dazu erzogen, das zu sehen, was andere übersehen. Wenn es anders wäre, kämen Sie doch wohl nicht, um mich zu konsultieren?«
»Ich bin zu Ihnen gekommen, Sir, weil ich über Sie von Mrs. Etheredge einiges gehört habe, deren Mann Sie so mühelos gefunden haben, als die Polizei und alle anderen ihn für tot aufgegeben hatten. Oh, Mr. Holmes, wenn Sie für mich doch auch so viel tun könnten. Ich bin zwar nicht reich, aber immerhin habe ich hundert Pfund im Jahr zur Verfügung, neben dem wenigen, das ich mit der Schreibmaschine verdiene, und ich würde alles