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Geld – und eigentlich ist es ganz nett mit ihr.« Wolfram drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, bestrich eine Brotscheibe mit Käse und fing an zu essen. »Diese süßen großen Landeier haben einige erstaunliche Tricks auf Lager – ich wollte dir bloß Bescheid geben, falls dir mal danach ist.«

      »Danke. Ich behalte es im Hinterkopf«, sagte Lysander etwas perplex. Wie würde Frau K wohl reagieren, wenn sie von diesen Machenschaften erführe? Er würde Traudl jedenfalls von nun an mit anderen Augen sehen.

      »Du wirkst so überrascht«, sagte Wolfram, sein Käsebrot kauend.

      »Das bin ich auch. Ich hatte ja keine Ahnung. Ausgerechnet hier – in dieser Pension. Wie sehr der Schein doch trügt.«

      Wolfram richtete sein Messer auf Lysander.

      »Diese Pension – die Pension Kriwanek – ist genau wie Wien. An der Oberfläche befindet sich die Welt von Frau K. So angenehm und erfreulich, alle lächeln höflich, niemand furzt oder popelt in der Nase. Aber darunter fließt ein dunkler, reißender Strom.«

      »Was für ein Strom?«

      »Der Strom der Lust.«

      6 Der Sohn von Halifax Rief

      »Ich bin im Foyer des Majestic Theatre an der Strand. Ich bewege mich durch einen Pulk elegant gekleideter Damen – jüngere und ältere. Sie plaudern und tratschen, ab und an wirft mir eine von ihnen einen Blick zu. Die Damen schenken mir nicht die geringste Beachtung – obwohl ich splitternackt bin.«

      Lysander hielt inne. Gerade las er Dr. Bensimon aus seinen Autobiographischen Untersuchungen vor.

      »Jaaaa …«, sagte Dr. Bensimon bedächtig. »Das ist interessant. Haben Sie das gestern Nacht geträumt?«

      »Ja. Ich habe es umgehend aufgeschrieben.«

      »Aber was hat es mit dem Theater auf sich?«

      »Das liegt auf der Hand«, sagte Lysander. »Es wäre noch viel interessanter, wenn es sich nicht um ein Theater handeln würde.«

      »Ich verstehe nicht ganz.«

      »Ich bin Schauspieler«, erklärte Lysander.

      »Von Beruf?«

      »Ich verdiene meinen Lebensunterhalt auf der Bühne, meistens im Londoner West End.«

      Er hörte Bensimon aufstehen und das Zimmer durchqueren, um sich am Fußende des Diwans zu setzen. Lysander drehte sich im Sessel zur Seite – Bensimon musterte ihn aufmerksam.

      »Rief«, sagte er. »Der Name kam mir gleich so bekannt vor. Sind Sie zufällig mit Halifax Rief verwandt?«

      »Er war mein Vater.«

      »Mein Gott!« Bensimon schien aufrichtig überrascht. »Ich habe ihn als King Lear gesehen, im … Wo war das noch mal?«

      »Im Apollo.«

      »Stimmt, im Apollo … Er ist doch gestorben, nicht wahr? Mitten in der Spielzeit.«

      »’99. Ich war dreizehn.«

      »Gütiger Himmel. Sie sind der Sohn von Halifax Rief. Nicht zu fassen.« Bensimon starrte Lysander an, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Ich meine, eine gewisse Ähnlichkeit zu erkennen. Und Sie sind auch noch Schauspieler.«

      »Nicht so erfolgreich wie mein Vater – aber ich kann ganz gut davon leben.«

      »Ich liebe das Theater. In welchem Stück haben Sie zuletzt mitgespielt?«

       »Ein romantisches Ultimatum.«

      »Sagt mir nichts.«

      »Eine Salonkomödie von Kendrick Balston – wurde nach vier Monaten Laufzeit im Shaftesbury abgesetzt. Dann bin ich gleich hierhergekommen.«

      »Gütiger Himmel …«, wiederholte Bensimon und nickte unmerklich, als hätte er gerade eine Offenbarung erlebt. Er ging zu seinem Schreibtisch zurück, und Lysander betrachtete das silberne Flachrelief. Allmählich hatte er das Gefühl, es in- und auswendig zu kennen, obwohl das erst seine zweite Sitzung bei Bensimon war.

      »Sie stehen also nackt im Foyer des Majestic. Sind Sie erregt?«

      »Offenbar fühle ich mich dort ganz wohl. Ich schäme mich nicht, vor diesen Leuten nackt zu sein. Es ist mir nicht peinlich.«

      »Niemand lacht oder kichert, niemand zeigt mit dem Finger auf Sie oder verspottet Sie?«

      »Nein. Die anderen scheinen das völlig normal zu finden. Wenn es überhaupt eine Reaktion gibt, dann höchstens vage Neugier. Sie blicken mich flüchtig an und setzen ihr Gespräch fort.«

      »Erntet Ihr Penis auch ›flüchtige Blicke‹?«

      »Wenn Sie mich so fragen, ja. Tatsächlich.«

      Daraufhin setzte Stille ein. Lysander schloss die Augen, er konnte das Kratzen von Bensimons Füller hören. Um zwischendurch auf andere Gedanken zu kommen, besann er sich auf die Freuden des vergangenen Wochenendes. Er hatte den Zug nach Puchberg genommen und dort die Nacht im Bahnhofshotel verbracht. Dann war er mit der Zahnradbahn auf den Hochschneeberg gefahren und den ganzen Weg zum Alpengipfel hin- und wieder zurückgelaufen (seine Wanderstiefel hatte er mitgebracht). Wie immer, wenn er in den Bergen oder auf dem Land wandern ging, fielen alle Sorgen und Bedenken von ihm ab. Vielleicht war das der beste Grund gewesen, nach Österreich zu fahren, dachte er – neue Wege, neue Landschaften. Am Wochenende konnte er immer den Zug nehmen und in den Bergen wandern, um den Kopf freizubekommen, seine Probleme zu vergessen. Die Wanderkur …

      »Träumen Sie das häufiger?«, fragte Bensimon.

      »Ja. Mit kleinen Abweichungen. Manchmal sind weniger Leute da.«

      »Aber Sie stehen im Vordergrund – nackt, inmitten vollständig bekleideter Frauen.«

      »Ja. Allerdings nicht immer im Theater.«

      »Warum träumen Sie das, was glauben Sie?«

      »Eigentlich hatte ich gehofft, Sie würden mir das verraten.«

      »Lassen Sie uns beim nächsten Mal fortfahren.« Mit diesen Worten beendete Bensimon die Sitzung. Lysander stand auf und streckte sich – es war anstrengend, sich derart konzentrieren zu müssen.

      »Schreiben Sie weiterhin alles auf«, sagte Bensimon, als er ihn zur Tür brachte. »Wir machen Fortschritte.« Er schüttelte ihm die Hand.

      »Bis nächsten Mittwoch«, sagte Lysander.

      »Der Sohn von Halifax Rief, wer hätte das gedacht.«

      Lysander saß im Café Central, trank einen Kapuziner und dachte an seinen Vater. Sein Versuch, ihn heraufzubeschwören, scheiterte wieder einmal. Er hatte nur das Bild eines großen massigen Mannes vor sich, dazu ein feistes vierschrötiges Gesicht, von dickem ergrautem Haar gekrönt. Die berühmte Stimme hatte er natürlich noch im Ohr, den klangvollen grollenden Bass, aber was ihm vor allem in Erinnerung geblieben war, war der Geruch seines Vaters – der Duft der Brillantine, die er sich in die Haare rieb und sein Barbier eigens für ihn zubereitete. Ein beißender Hauch von Lavendel als anfängliche Note, unterlegt vom reichhaltigeren Aroma des Lorbeers. Ziemlich stark parfümiert, mein Vater, dachte Lysander. Und dann starb er.

      Lysander sah sich im weitläufigen Café mit den hohen Decken und der Glaskuppel um. Es war ruhig. Ein paar Zeitung lesende Gäste, eine Mutter, die mit ihren zwei kleinen Töchtern den Kuchenwagen in Augenschein nahm. Die Sonne fiel schräg durch die großen Fenster und ließ die rubinroten und bernsteingelben Buntglasrauten aufleuchten. Lysander winkte dem Kellner und bestellte einen Cognac, er wollte die beschauliche Stimmung noch ein wenig auskosten. Als ihm der Cognac serviert wurde, kippte er ihn in den Kapuziner und zog Blanches Brief hervor. Ihr erster, seit er nach Wien gekommen war – er hatte ihr vier Mal geschrieben … Er strich die Blätter glatt. Königsblaue Tinte, ihre schwungvolle zackige Handschrift, die sich über die ganze Seite erstreckte, bis zum Rand.

      Liebster

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