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Eine große Zeit. William Boyd
Читать онлайн.Название Eine große Zeit
Год выпуска 0
isbn 9783311701705
Автор произведения William Boyd
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Lysander ging weiter und unterzog seine Gefühle einer gewissenhaften Prüfung. Warum löste ein Plakat, das die anstehende Vergewaltigung irgendeiner mythologischen Gestalt zeigte, bei ihm Erregung aus? War das normal? Lag es, genauer gefragt, vielleicht an der Pose – die Hände, die sich schützend um die Brüste wölbten, sie hielten, aufreizend und abwehrend zugleich? Er seufzte: Wer könnte diese Fragen schon beantworten? Der menschliche Geist war unendlich rätselhaft, vielschichtig und abgründig. Ja, ja, ja. Genau deswegen war er schließlich nach Wien gekommen.
Er überquerte den Schottenring und die ausgedehnte Grünfläche vor dem riesigen grauen Universitätsgebäude. Dort sollte er hingehen, um mehr über Persephone zu erfahren – er könnte jemanden fragen, der Latein und Griechisch studierte –, doch etwas ließ ihm keine Ruhe, ihm wollte partout kein Ungeheuer einfallen, das in Persephones Geschichte eine Rolle spielte … Im Gehen achtete er auf die Straßenschilder – bald wäre er am Ziel. Er blieb stehen, um eine Trambahn vorbeifahren zu lassen, danach bog er nach rechts in die Berggasse und dann links in die Wasagasse. Nummer 42.
Er schluckte, plötzlich hatte er einen trockenen Mund, und dachte: Vielleicht sollte ich einfach umkehren, meine Koffer packen, nach London zurückfahren und mein überaus bequemes Leben wieder aufnehmen. Aber damit wäre, wie er sich vor Augen führte, sein eigentümliches Problem nach wie vor ungelöst … Das breite Tor zur Nr. 42 stand offen, und er trat in die Einfahrt. Kein Pförtner oder Hauswart in Sicht. Er hätte mit einem Aufzug aus Stahlgeflecht nach oben fahren können, aber er nahm lieber die Treppe. Erster Stock. Zweiter. Schmiedeeisernes Geländer, die Handleiste aus lackiertem Holz, gesprenkelter Granit für die Stufen, die Wandmitte vertäfelt, darunter grüne Kacheln, darüber weiße Tünche. Auf solche Details konzentrierte er sich, um nicht an die Dutzenden – womöglich Hunderten – Menschen zu denken, die vor ihm diese Stufen hinaufgegangen waren.
Im zweiten Stock erwarteten ihn Seite an Seite zwei massiv getäfelte Türen mit Kämpferfenstern. Auf der einen stand Privat. Die andere war über der separaten Klingel mit einem kleinen Messingschild versehen, das dringend einer Politur bedurfte: Dr. J. Bensimon. Lysander zählte bis drei und drückte auf die Klingel, mit einem Mal hatte er die Gewissheit, das Richtige zu tun, vertraute auf die neue, bessere Zukunft, die er sich hiermit sichern wollte.
2 Miss Bull
Dr. Bensimons Sprechstundenhilfe (eine schlanke Brillenträgerin von strengem Äußeren) hatte Lysander in ein kleines Wartezimmer geführt und ihn höflich auf die Tatsache hingewiesen, dass er rund vierzig Minuten zu früh erschienen war. Ob er sich noch so lange gedulden …? Mein Fehler – zu dumm. Kaffee? Nein danke.
Lysander setzte sich in einen niedrigen schwarzen Ledersessel ohne Armlehnen, einen von vier Sesseln in diesem Raum, die vor einem leeren Kamin mit Gipssims zu einem lockeren Halbkreis angeordnet waren, und unternahm einen weiteren Versuch, sich zu sammeln und seiner Aufregung Herr zu werden. Wie hatte er sich derart in der Uhrzeit irren können? Man hätte doch annehmen dürfen, dass dieser Konsultationstermin seinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt war. Als er sich umsah, fiel ihm eine schwarze Melone auf, die an dem Garderobenständer in der Ecke hing. Sie gehörte wohl dem Patienten vor ihm. Bei diesem Anblick wurde ihm bewusst, dass er doch in den Park hätte zurückgehen können, um seinen Hut zu holen. Verdammt, dachte er. Leck mich am Arsch, dachte er ferner, aus Spaß an der Unflätigkeit. Immerhin hatte ihn die Kreissäge eine Goldguinea gekostet.
Er stand auf und betrachtete die Bilder an der Wand, allesamt Stiche von stattlichen Ruinen – moosbedeckt, von Unkraut und jungen Bäumen überwuchert –, lauter gestürzte Schlusssteine, zerbrochene Giebel und umgekippte Säulen, die vage vertraut wirkten. Kein einziger Künstler wollte ihm einfallen – eine weitere Bildungslücke. Er ging zum Fenster, das auf den kleinen Innenhof des Wohngebäudes hinausging. Dort wuchs ein Baum – eine Platane, wenigstens konnte er ein paar Bäume bestimmen – inmitten eines Rasenstücks mit zertrampeltem, welkem Gras, eingehegt vom ehemaligen Kutschhaus und den Stallboxen; daraus trat nun eine alte Frau mit Schürze hervor, die an einem randvollen Kohleneimer schwer zu schleppen hatte. Er wandte sich ab und lief im Kreis, wobei er eine umgedrehte Ecke des verschlissenen Perserteppichs mit der Schuhspitze behutsam auf den Parkettboden zurückschlug.
Aus dem Vorzimmer drangen einige – auffallend laute, scharfe – Stimmen zu ihm, die Tür sprang auf, eine junge Frau kam herein und machte sie mit einem kräftigen Knall hinter sich zu.
»Entschuldigung«, sagte sie ungnädig, ohne ihn richtig anzusehen, dann setzte sie sich in einen der Sessel und wühlte energisch in ihrer Handtasche, bevor sie schließlich ein winziges Taschentuch herauszog und sich die Nase putzte.
Lysander trat leise wieder ans Fenster; er konnte das Unbehagen dieser Frau förmlich spüren, die Anspannung, die in Wellen von ihr ausging, als erzeugte ein innerer Dynamo dieses Fieber, diese Angst – das deutsche Wort war ihm erfreulich spontan in den Sinn gekommen.
Er drehte sich um, und ihre Blicke trafen sich. Solche Augen hatte er noch nie gesehen, durchscheinend helle braungrüne Augen. Und sie waren groß und weit – das Weiße, das die Iris umgab, deutlich erkennbar –, als betrachtete die junge Frau alles mit starker Intensität oder als stünde sie noch unter einem wie auch immer gearteten Schock. Ein hübsches Gesicht, dachte er – wohlgeformte Nase, spitzes, markantes Kinn. Olivbraune Haut. Ausländerin? Die Haare unter der ausladenden blutroten Baskenmütze waren hochgesteckt, und sie trug eine taubengraue Samtjacke zu einem schwarzen Rock. Am Revers prangte eine große Brosche aus rotem und gelbem Schellack in plumper Papageienform. Irgendwie künstlerisch, dachte Lysander. Schnürhalbstiefel, kleine Füße. Die junge Frau war tatsächlich sehr klein, sehr zierlich. Und sichtlich aufgeregt.
Er lächelte und wandte sich wieder dem Hof zu. Die stämmige alte Haushälterin stapfte nun mit ihrem leeren Kohleneimer zu den Ställen zurück. Wozu benötigte sie im Hochsommer so viel Kohle? Das konnte doch –
»Sprechen Sie Englisch?«
Lysander drehte sich um. »Ja, ich bin Engländer«, sagte er leicht argwöhnisch. »Wie sind Sie darauf gekommen?« Es ärgerte ihn, dass man ihm seine Nationalität offenbar an der Nasenspitze ansehen konnte.
»In Ihrer Tasche steckt eine Ausgabe des Graphic«, sagte sie und deutete auf die gefaltete Zeitung. »Das verrät einiges. Außerdem sind die meisten Patienten von Dr. Bensimon Engländer.« Ihre Sprechweise war kultiviert, offensichtlich war sie selbst Engländerin, ungeachtet ihres recht exotischen Teints.
»Haben Sie vielleicht eine Zigarette übrig?«, fragte sie. »Rein zufällig?«
»Zufällig ja, aber –« Lysander deutete auf ein Hinweisschild auf dem Kaminsims: Bitte nicht rauchen.
»Na klar. Darf ich Ihnen für später eine mopsen?«
Lysander zog sein Zigarettenetui aus der Jackentasche, klappte es auf und bot es der jungen Frau an. Sie nahm sich eine Zigarette, fragte: »Darf ich?«, und griff erneut zu, ohne seine Erlaubnis abzuwarten. Sie steckte beide Zigaretten in ihre Handtasche.
»Ich muss wirklich ganz dringend mit Dr. Bensimon sprechen«, sagte sie bestimmt, sachlich und nüchtern. »Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, wenn ich mich so einfach vordrängle.« Nun lächelte sie ihn an, so strahlend unschuldig, dass Lysander beinah geblinzelt hätte.
Genau genommen machte es ihm durchaus etwas aus, aber er sagte: »Keineswegs«, und erwiderte ihr Lächeln, etwas verunsichert. Wieder wandte er sich dem Fenster zu, berührte seinen Krawattenknoten und räusperte sich.
»Setzen Sie sich doch«, sagte die junge Frau.
»Ich möchte gern stehen. Diese niedrigen Sessel ohne Armlehne sind recht unbequem.«
»Ja, das sind sie in der Tat.«
Lysander überlegte, ob er sich vorstellen sollte, aber dann kam ihm der Gedanke, dass das Wartezimmer eines Arztes zu den Orten zählte, an denen die Menschen – lauter Fremde – vermutlich lieber anonym bleiben wollten; schließlich waren sie sich nicht in einer Galerie oder