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Eine große Zeit. William Boyd
Читать онлайн.Название Eine große Zeit
Год выпуска 0
isbn 9783311701705
Автор произведения William Boyd
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Er faltete den Brief und steckte ihn mit einem Gefühl leichten Unwohlseins wieder ein. Ihm war, als hörte er ihre Stimme, sie erinnerte ihn an das, was ihn nach Wien geführt hatte, konfrontierte ihn mit den Auswirkungen seines speziellen Problems. Unter diesen Umständen konnte er Blanche wohl kaum heiraten. Man stelle sich nur die Hochzeitsnacht vor …
Er zündete sich eine Zigarette an. Blanche hatte vor ihm schon mehrere Liebhaber gehabt, wie er wusste. Sie hatte ihn quasi eingeladen, das Bett mit ihr zu teilen, aber er hatte darauf beharrt, den Anstand zu wahren – nun waren sie offiziell verlobt. Er zog sein Notizbuch aus der Tasche und rechnete schnell nach. Sein letzter Versuch, geschlechtlich mit einer Frau zu verkehren, war mit dieser jungen Dirne gewesen, die er in Piccadilly aufgegabelt hatte. Er rechnete zurück: vor drei Monaten und zehn Tagen. Kurz nachdem er Blanche den Heiratsantrag gemacht hatte, und auch nur als ein notwendiges Experiment. Er erinnerte sich an das muffige kleine Zimmer in der Dover Street, eine einzige Gaslampe, einigermaßen saubere Laken auf dem schmalen Bett. Das Mädchen war eigentlich recht hübsch gewesen, auf eine grelle Art, denn sie war stark geschminkt, aber wenn sie lächelte, kam ein schwarzer Zahn zum Vorschein. Es fing gut an, doch dann stellte sich das Unvermeidliche ein. Nichts. Wir können es noch mal versuchen, hatte das Mädchen gesagt, als er ihr Geld gab, ist ja nichts passiert, und das zählt nicht so richtig, oder? Aber bezahlen müssen Sie trotzdem – knallen tut auch die Platzpatrone.
Lysander bequemte sich zu einem bitteren Lächeln – das hatte sie vermutlich von einem Soldaten-Freier aufgeschnappt und nicht wieder vergessen. Er drückte seine Zigarette aus. Vielleicht sollte er Bensimon erzählen, dass er mit Blanche Blondel verlobt war – das könnte ihn ähnlich beeindrucken wie Halifax Rief.
Er zahlte – dachte daran, den Hut aufzusetzen – und trat in den warmen sonnigen Nachmittag hinaus; er blieb auf den Kaffeehausstufen stehen, überlegte, ob er zu Fuß in die Pension Kriwanek zurückkehren, unter Umständen das Abendessen schwänzen sollte, fragte sich außerdem, wohin er am nächsten Wochenende fahren könnte – Baden vielleicht, oder sogar Salzburg, eine kleine Reise unternehmen, nach Tirol –
»Mr Rief?«
Lysander zuckte unwillkürlich zusammen. Ein hochgewachsener Mann, hageres strenges Gesicht, makelloser dunkler Schnurrbart.
»Wollte Sie nicht erschrecken. Wie geht’s? Alwyn Munro.«
»Tut mir leid – ich war in Gedanken gerade woanders.« Er gab ihm die Hand. »Natürlich! Wir sind uns in Dr. Bensimons Praxis begegnet. Welch ein Zufall«, sagte Lysander.
»Im Café Central treffen Sie früher oder später alle, die sich in Wien tummeln«, erwiderte Munro. »Wie gefällt es Ihnen hier?«
Lysander war nicht nach belangloser Konversation zumute.
»Sind Sie Patient bei Dr. Bensimon?«, fragte er.
»Bei John? Nein. Wir sind befreundet. Haben zusammen studiert. Manchmal löchre ich ihn mit Fragen. Ist ein kluger Mann.« Munro merkte offenbar, dass Lysander das Gespräch nicht unbedingt fortsetzen wollte. »Sie haben es sicher eilig. Gehen Sie ruhig.« Er angelte eine Visitenkarte aus seiner Tasche und überreichte sie ihm. »Ich bin hier an der Botschaft tätig, falls Sie mich mal brauchen sollten. Hat mich gefreut.«
Er tippte mit dem Zeigefinger an die Melonenkrempe und ging in das Café hinein.
Lysander schlenderte zur Mariahilfer Straße zurück, die Sonne genießend. Er zog die Jacke aus und warf sie sich über die Schulter. Tirol, ja, dachte er – richtige Berge. Er wollte gerade den Opernring überqueren, als er ein weiteres zerfetztes Plakat erblickte. Bei diesem hatte das Ungeheuer seinen Kopf behalten – eine wüste Mischung aus Drache und Krokodil –, und der Name des Komponisten war vollständig: Gottlieb Toller. Lysander fiel ein, dass er Herrn Barth nach diesem Toller fragen könnte. Er hörte eine Kapelle, sie spielte die militärisch angehauchte Version eines Strauss’schen Walzers, und er passte seinen Schritt dem Takt der Trommelschläge an. Dabei dachte er an Blanches schönes längliches Gesicht, ihre dünnen knochigen Handgelenke mit den klirrenden Armreifen, ihre hohe schmale Gestalt. Er liebte sie wirklich, dachte er, darum wollte er sie heiraten – nicht, um den Schein zu wahren oder den Konventionen zu genügen. Um ihretwillen musste er sich bemühen, wieder gesund zu werden, ein normaler Mann, der mit einer wundervollen Frau eine glückliche Ehe führen konnte.
Er überquerte den Ring mit aller gebotenen Vorsicht, unterdessen stimmte die Kapelle eine Art Schnellmarsch oder Polka an. Der Rhythmus beflügelte ihn, als er die Mariahilfer Straße entlangbummelte, hinter ihm wurde die Musik immer leiser, ging im Verkehrslärm unter, während die Kapelle in Richtung Kaserne zurückmarschierte, sie hatte ihre Pflicht erfüllt und die biederen Wiener Bürger ein Stündchen lang bespaßt. Lysander spürte die Sonne auf seinen Schultern brennen, eine Fülle seltsam widersprüchlicher Gefühle befiel ihn – Stolz darüber, dass er sich aus freien Stücken für eine Therapie entschieden hatte, Genuss am Bummel durch die inzwischen vertrauten Straßen dieser fremden Stadt, beides unterlegt von einer verhaltenen melancholischen Freude, weil Blanche mit den allwissenden, verständnisvollen Augen weit, weit weg war.
7 Die primäre Sucht
»Wie ist es beim Masturbieren?«, fragte Bensimon.
»Da klappt es fast immer. In neun von zehn Fällen, würde ich sagen. Das ist nicht das Problem.«
»Aha. Die primäre Sucht.«
»Wie bitte?«
»Ein Ausdruck von Dr. Freud …« Bensimon hielt den Füller bereit. »Was stimuliert Sie?«
»Es kommt darauf an.« Lysander räusperte sich. »Ich denke meist an Personen – Frauen –, die ich früher begehrt habe, und dann stelle ich mir eine –« Er verstummte. Nun erkannte er, wie hilfreich es war, dass er seinem Gesprächspartner nicht gegenübersaß. »Ich stelle mir eine Situation vor, bei der alles nach Wunsch verläuft.«
»Natürlich rein hypothetisch. Die Hypothese einer perfekten Welt. Die Wirklichkeit ist weitaus komplizierter.«
»Ja, mir ist schon bewusst, dass das reine Phantasie ist.« Lysander versuchte, seine Gereiztheit nicht anklingen zu lassen. Bensimon nahm das Gesagte manchmal allzu wörtlich.
»Aber das ist durchaus von Nutzen«, sagte Bensimon. »Ist Ihnen ›Parallelismus‹ ein Begriff?«
»Nein. Ist das schlimm?«
»Keineswegs. Es handelt sich um eine Theorie, die ich selbst entwickelt habe, gewissermaßen als Ergänzung zum zentralen Ansatz von Dr. Freuds Psychoanalyse. Vielleicht kommen wir später einmal darauf zurück.«
Stille. Lysander hörte Dr. Bensimons Plopplaute. Ploppploppplopp machten seine Lippen. Nervtötend.
»Lebt Ihre