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Kinderjahre Kaiser Karls. Gabriele Praschl-Bichler
Читать онлайн.Название Kinderjahre Kaiser Karls
Год выпуска 0
isbn 9783902862990
Автор произведения Gabriele Praschl-Bichler
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Pflichtbewusst wie der Erzherzog war, notierte er beinahe sein ganzes Leben lang jedes noch so kleine Detail in seinem und seiner Familie Tagesablauf, meist fügte er sogar die Uhrzeit hinzu, wann eine Tätigkeit begonnen und wann sie durch eine neue abgelöst wurde. So reihen sich Tag an Tag Notizen über Aufwachen, Aufstehen, »Toilette machen« und Frühstück nehmen. Gegen halb 9, 9 Uhr begannen die täglichen Termine. Mehrmals pro Woche gab es Audienzen, dazwischen traf Erzherzog Carl Ludwig Politiker, Offiziere, Künstler und Wissenschaftler zu Besprechungen, er besuchte Veranstaltungen, nahm Paraden ab, eröffnete Ausstellungen, absolvierte Staatsbesuche und empfing Staatsoberhäupter. Je höher die Anlässe und je größer die Empfänge, desto mehr Familienmitglieder nahmen daran teil und desto umfang- und inhaltsreicher sind die Eintragungen.
Die größte Hürde, die beim Lesen und Übertragen der Tagebücher genommen werden musste, war das Entziffern der Schrift Erzherzog Carl Ludwigs. Aber nicht, weil Kaiser Karls Großvater besonders hässlich oder besonders unleserlich schrieb, sondern weil er als echter Habsburger des 19. Jahrhunderts mit Papier sehr sparsam umging und viele Zeilen in der heute nicht mehr geläufigen Kurrent- oder Sütterlin-Schrift auf eine Seite setzte. Zudem gebrauchte er für häufiger verwendete Namen oder Begriffe Kürzel, die erst entschlüsselt werden wollten.
Obwohl der Erzherzog jedes Jahr dasselbe Tagebuch-Modell vom selben Hersteller kaufte – es ist in braunem Leder gebunden, hat verstärkte Ecken aus Messing und Goldschnitt –, hat jeder Band ein anderes Maß, wobei die einzelnen Stücke bestenfalls um zwei Zentimeter in Höhe und Breite differieren. Normalerweise befinden sich 50 bis 60 geschriebene Zeilen auf einer Seite. Sie stehen dicht aneinandergedrängt, auch wenn nur eine halbe Seite beschrieben ist, was allerdings nur selten vorkommt. Die Texte sind mit vielen Einfügungen und Streichungen versehen. An Tagen, an denen sich besonders viel ereignete, wurden vierseitige Bögen eingelegt und darauf weitergeschrieben. Das geschah ebenfalls nach einem sehr sparsamen System: Auf dem gefalteten Einlageblatt, das ein etwas kleineres Format als das Tagebuch hatte, wurde – mit dem Datum des bestimmten Tages versehen – die Eintragung fortgesetzt. Da sie eigentlich nie alle vier Seiten einnahm, wanderte das teilweise beschriebene Blatt weiter und wurde später, wenn wieder Bedarf war, für den Rest einer anderen Tageseintragung, abermals mit dem dazugehörigen Datum versehen, verwendet. Das geschah so lange, bis alle vier Seiten voll beschrieben waren. Man findet die Einlageblätter immer unter dem Datum der letzten Eintragung. Mitunter liegen dort sogar zwei vierseitige Bögen, da der letzte Nachtrag häufig länger als der restliche Platz auf der vierten Seite war. Also begann Erzherzog Carl Ludwig einen neuen Bogen, versah ihn weiter mit Nachträgen und legte beide Bögen beim Datum der letzten Eintragung des zweiten Blattes ein. Die letzte Seite des zweiten Einlageblatts ist häufig besonders dicht beschrieben, da der Autor meist vermeiden wollte, ein drittes Blatt anzufügen.
Da sich die Einlageblätter häufig nicht mehr an den ursprünglichen Stellen befanden und durcheinander geraten waren, lagerten sie meist als Konvolut dicht zusammengepresst am Ende der Tagebücher. Erst als die Bögen chronologisch geordnet und unter den richtigen Daten eingelegt waren, konnte mit dem Lesen und Übertragen begonnen werden.
Viel Neues und Unbekanntes ist ans Tageslicht gekommen, von dem man nichts wusste, nicht einmal ahnte. In Bezug auf die große Geschichte war es besonders interessant, ein bislang nirgendwo verzeichnetes Naheverhältnis Erzherzog Ottos, des Vaters des späteren Kaisers Karl, zu Kronprinz Rudolf aufzudecken. Otto war mit seinem direkten Cousin Rudolf innig befreundet und verbrachte in dessen letzten Lebensjahren jede freie Minute mit ihm. In den zahlreichen Biographien über Kronprinz Rudolf findet man unter seinen engsten Freunden und Vertrauensleuten den Journalisten Moriz Szeps und unter den Verwandten Erzherzog Johann Salvator (später: Johann Orth) sowie seinen Schwager Prinz Philipp Coburg.
Das ist sicher auch eine Erklärung dafür, warum Kaiser Franz Joseph nach dem Tod seines Sohns Rudolf ein so inniges Verhältnis zu seinem Neffen Otto hatte und ihn häufig dessen älterem Bruder Franz Ferdinand vorzog. Es wäre denkbar, dass Kaiser Franz Joseph Schuldgefühle am Freitod seines Sohns quälten und er an Otto gutmachen wollte, was er bei Rudolf verabsäumt hatte. Das unbeschwerte Wesen Ottos, sein Charme und seine unterhaltsame Art machten ihn überall zum gern gesehenen Gast. Auch Kaiser Franz Joseph schätzte diese Eigenschaften an seinem Neffen, da er wie alle Menschen gerne von Alltagsproblemen abgelenkt werden wollte.
Im Unterschied dazu traten bei der Lektüre der Tagebücher auch andere, weniger erfreuliche Erkenntnisse zutage. Am erstaunlichsten war sicher die Feststellung, dass Kaiser Karls Mutter, Erzherzogin Marie Josepha, keinen Bezug zu ihrem Sohn hatte. Sie hat sich mit ihrem lange Zeit einzigen Kind kaum je beschäftigt, überließ die Betreuung den Kindermädchen, selbst wenn sie nicht auf Reisen war und sich im selben Haushalt wie ihr Sohn befand. Zwischendurch wurde der kleine Carl mit seinen Betreuern häufig von einer Wohnadresse zur nächsten befördert, ohne dass es einen Grund für die Reise gegeben hätte. Denn meist war der Ort, wohin man ihn schickte, ein leerer Haushalt, in dem ausschließlich Bedienstete lebten.
Innig geliebt und als Kind wahrgenommen wurde Carl im Haushalt seines Großvaters. Erzherzog Carl Ludwig hatte eine derartige Freude, sich mit dem Enkel zu umgeben, dass man den Kleinen fast immer bei ihm fand, auch wenn er in seinem Schreibzimmer Akten und Korrespondenz erledigte, der Friseur ihm die Haare schnitt oder er Kleider wechselte. Carl durfte immer dabei sein, durfte immer Fragen stellen und wurde als kleine Persönlichkeit anerkannt und respektiert.
Im Tagebuch wurden aber nicht nur die Erlebnisse mit dem Enkel festgehalten, sondern auch die mit den anderen Familienmitgliedern. Dabei ist es interessant zu lesen, wie Ehefrau und Kinder, jeder auf seine eigene Art, den Alltag meisterten. Das lässt eine gute Charakterisierung der einzelnen Personen zu und man erkennt rasch, wer von der Familie introvertiert und wer gesellig war. Zu den ruhigen und zurückhaltenden Personen gehörten Carl Ludwigs drei Töchter Margarethe, Miana und Elisabeth, eine von ihnen war häufig zerstreut (die jüngste Tochter Elisabeth), einige waren fröhliche Unterhalter (die Ehefrau Marie Theresia, der Sohn Otto und der kleine Enkel Carl), einige waren sportlich und künstlerisch begabt (die Ehefrau sowie die Söhne Otto und Ferdinand). Eine grobe Skizzierung der am häufigsten »auftretenden« Personen findet sich im folgenden Kapitel.
Die »handelnden« Personen
Erzherzog Carl Ludwig,
der Tagebuchschreiber und Großvater Carls
Erzherzog Carl Ludwig war der drittgeborene Sohn Erzherzog Franz Carls und Erzherzogin Sophies und nach dem Fortgang seines Bruders Ferdinand Maximilian nach Mexiko 1864 der ranghöchste erwachsene Erzherzog nach Kaiser Franz Joseph und dessen Sohn Kronprinz Rudolf. Nach dem Tod des Kronprinzen im Jahr 1889 rückte Erzherzog Carl Ludwig ganz vor und wurde der erste Mann hinter dem Kaiser. Kaiser Franz Joseph hatte zu seinem Bruder Carl Ludwig, der ihm als Einziger der Familie sein ganzes Leben lang als Mitarbeiter zur Seite stand, ein besonders inniges Verhältnis. Wie der Kaiser bearbeitete er täglich waschkorbweise Akten, empfing Hunderte Personen des öffentlichen Lebens in Audienzen, besuchte im Auftrag Franz Josephs politische und öffentliche Veranstaltungen und unternahm zahlreiche diplomatische Dienstreisen im In- und Ausland.
Was Erzherzog Carl Ludwig von den meisten Habsburgern unterschied, waren seine Selbstdisziplin, seine Engelsgeduld und die Bereitschaft, an Tausenden Veranstaltungen teilzunehmen. Bei Eröffnungen von wohltätigen Instituten, von Ausstellungen, bei Audienzen, bei politischen und militärischen Gesprächen war es sein oberstes Ziel, jeden zu sprechen, der mit ihm sprechen wollte.