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Dinge im Kopf. – Hast du denn schon etwas zu Mittag gehabt?«

      »Nein – nur heute morgen«, antwortete Veronika und spürte plötzlich ihren leeren Magen wieder.

      »Das hab’ ich mir beinahe gedacht. Na, dann komm mal mit. Wie heißt du eigentlich?«

      »Ika!« Veronika nannte ihren abgekürzten Namen, den sie sich selbst gegeben hatte, als sie noch nicht richtig sprechen konnte.

      »Ika«, wiederholte die Wirtin. »Das ist aber ein seltsamer Name. Den hat dir sicher dein Opa ausgesucht!«

      Veronika schwieg. Sie hatte gelernt, daß es immer besser war, nicht zu viel zu sagen. Sie betrachtete das freundliche Gesicht der Frau eingehend und fand es sehr vertrauenerweckend.

      Hand in Hand stapften sie den Abhang hinauf, und Veronika bekam in der dunkelgetäfelten Gaststube ein köstliches Mittagessen serviert: Klöße mit Sauerkraut und Schweinebraten. Sie aß mit Genuß und Hingebung.

      »Na also!« sagte die Wirtin befriedigt. »Ein alter Mensch wie dein Opa kann auf eine Mahlzeit verzichten. Aber aus dir soll ja erst noch ein Mensch werden. Bis jetzt bist du ja nur ein Würstchen. Wenn dein Opa das Essen wieder einmal vergißt, dann komm zu mir! – So, und nun geh wieder spielen.«

      Sie schob das Kind aus der Tür und bemerkte dabei seine noch immer feuchte Rückseite. »Ach du liebe Güte, bist du in die Tauber gefallen?«

      »Ein bißchen bloß. Ist schon bald wieder trocken!« versicherte Veronika hastig.

      »Na, nun aber marsch zum Opa und ein neues Kleid anziehen! Schmutzig und verknautscht ist es ja auch!«

      Veronika beeilte sich, aus dem Haus zu kommen. Draußen entdeckte sie eine junge Frau im Liegestuhl. Langsam schlenderte Veronika höher. Die junge Frau lag mit geschlossenen Augen. Ihre langen braunen Haare waren ausgebreitet wie ein Fächer. Das schmale Gesicht schimmerte rosig. Lange dunkle Wimpern warfen richtige Schatten.

      Veronika fand, daß die Frau wie ein Engel aussah.

      Die Hände des Engels lagen im Schoß und hielten einen Brief.

      Sie ist beim Lesen eingeschlafen, dachte Veronika. Manchmal ist Lesen langweilig…

      Doch plötzlich sah sie, daß unter den langen Wimpern eine Träne hervorquoll!

      Die Träne rollte über die zarte Wange und hinterließ eine nasse Spur. Und dann folgte eine zweite Träne und noch viele mehr!

      Veronika stand völlig erschüttert da. Ihr mitleidiges Herz floß über. Spontan umarmte sie die Weinende und flüsterte:

      »Weine doch nicht! Sonst werde ich auch ganz traurig! Du bist so schön. Bist du ein Engel?«

      Die junge Frau fuhr in die Höhe. Sie schob das Kind auf Armeslänge von sich und fragte verwirrt: »Wo kommst du denn plötzlich her?«

      Hastig suchte sie nach einem Taschentuch. Dabei ließ sie den Brief verschwinden.

      »Bist du jetzt böse auf mich?« fragte Veronika und machte erschrockene Augen.

      »Nein, nein, natürlich nicht. Sage mir, wie du heißt.«

      »Ika!«

      »Und wo wohnst du?«

      »Ich bin bei Opa im Schloß!«

      »Im Schloß? – Ach, du meinst sicher das Toppler-Schlößchen! Der Herr Professor ist dein Opa?«

      Veronika nickte eifrig.

      »Warum bist du so traurig?« wollte sie wissen. »Hat dir einer was Böses geschrieben?«

      »Du bist der Wahrheit sehr nahe. Aber das verstehst du nicht, mein Kind. – Geh jetzt spielen.«

      »Wirst du auch nicht mehr weinen?«

      »Nein, bestimmt nicht!« Die junge Frau legte sich wieder zurück und schloß die Augen.

      Sie sieht sehr schön aus, aber sehr, sehr traurig. Ob Engel immer traurig sind? grübelte Veronika. Sie hockte sich still zu Füßen der jungen Frau ins Gras, stützte ihr Kinn in die kleine Hand und sann.

      Von der Mittagssonne wurde Veronika ein bißchen schläfrig. Es war schön, hier zu sitzen und die wunderhübsche Frau anzusehen. – Wer ihr wohl etwas Böses geschrieben hatte? Veronika konnte es sich überhaupt nicht denken!

      Über ihr in der Kastanie zwitscherte ein Vogel. Veronika schloß die Augen und lauschte. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, daß der Engel im Liegestuhl sich aufgerichtet hatte. »Du bist ja noch immer hier, Ika?«

      »Ich dachte, vielleicht magst du nicht gern allein sein.«

      »Und du hast die ganze Zeit hier still gesessen?«

      Veronika nickte.

      Urte Söhrens war gerührt. Dieses Kind mit den Vergißmeinnichtaugen machte einen seltsam verlorenen Eindruck. Auch sie, Urte, fühlte sich verloren. Vielleicht fühlten sie sich deshalb zueinander hingezogen.

      »Ist deine Mutti auch hier?« fragte sie das Kind.

      Heftiges Kopfschütteln. Die ungekämmten Locken tanzten um das kleine runde Gesicht. »Ich hab’ gar keine Mutti! Nur einen Opa.«

      »Ach du liebe Güte!« Unwillkürlich beugte Urte sich nach vorn und strich zärtlich über das blonde Köpfchen und über die Wange. »Wollen wir in die Stadt gehen und ein Eis essen?«

      Veronikas Augen leuchteten auf. »Hast du denn so viel Geld?«

      »Ich denke, für uns beide wird es reichen!« Urte erhob sich und holte einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche. Mit raschen geschickten Griffen richtete sie ihr langes seidiges Haar.

      »Dein Haar ist auch ordentlich verzottelt, Ika. Komm mal näher.«

      Veronika fürchtete sich stets vor dem Kämmen. Es ziepte immer fürchterlich. Erstaunlicherweise merkte sie unter der leichten Hand der Frau kaum etwas und wurde noch gelobt, weil sie so schön still hielt. Daß sie gelobt wurde – das war etwas ganz Neues für das kleine Mädchen.

      In der Haustür erschien die Wirtin.

      »Ich nehme die Kleine mit in die Stadt, falls ihr Opa fragen sollte«, erklärte Urte. »Bitte, richten Sie es dem Herrn Professor aus, Frau Eckstein.«

      »Ist recht, Fräulein Söhrens. Der Herr Professor hat bestimmt nichts dagegen. Ich verstehe gar nicht, daß die Mutter das Kind allein bei dem alten Herrn läßt.«

      »Ika hat mir erzählt, daß sie nur den Opa hat, keine Mutti. – Aber einen Vater hast du doch auch?« wandte sich Urte vorsichtig an das Kind.

      Veronika schüttelte heftig den Kopf.

      Die Wirtin schlug die Hände zusammen. »Dann sollst du wohl für immer bei deinem Opa bleiben? Na, was das wohl wird! So ein Kind muß doch zu seinem Recht kommen! Der Herr Professor vergißt das Essen und das Trinken. Seine Gedanken schweben ja immer im siebenten Himmel. Und jetzt das Kind!«

      »Wir gehen erst einmal Eis essen!« sagte Urte rasch.

      An der Hand der jungen Frau fand Veronika die Straßen der alten Stadt noch viel schöner und aufregender. Sie hatte plötzlich das Gefühl, beschützt zu sein. Es gab einen Menschen, der für sie da war. Auch das war etwas ganz Neues und Außerordentliches für das kleine Mädchen. Selbst eine nette Tante mußte sie im Heim mit so vielen anderen teilen! Hier war nun jemand, der Zeit hatte und noch viel netter und hübscher war als die Tanten. Veronika war sehr stolz darauf, an der Hand der jungen Frau gehen zu dürfen. »Tante…«

      »Ach, sag doch einfach Urte zu mir, Ika.«

      »Urte… Urte, darf ich dich jeden Tag besuchen kommen?«

      »Aber natürlich! Ich würde mich freuen. Bei deinem Opa im Schlöß­chen langweilst du dich doch sicher.«

      »Ja. Ich spiel’ immer mit dem

      Teddy. Aber bei dir bin ich noch

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