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Lektüre der P-E soll dieses Medienbewusstsein besser fassen und so eine neue Perspektive auf das Sprachdenken des mittelalterlichen Islands ermöglichen. Das bedeutet auch, die P-E nicht nur fragmentarisiert zu lesen: Wie oben zitiert, werden „kanonisch“ bloss vier Teile zur P-E gezähltdiese Arbeit schlägt vor, den Begriff Prosa-Edda zu öffnen und auf zusätzliche Inhalte auszuweiten.

      1.2 Fragestellung

      1.2.1 Bisherige Forschung zur Prosa-Edda

      Wie oben angesprochen, lässt sich die Edda-Forschung grob in verschiedene – grundsätzlich philologische – Bereiche teilen. Auf der einen Seite steht am Anfang der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der P-E im 19. Jahrhundert der thematisch-stoffliche Bereich und damit die nordische Mythologie im Zentrum. Hier interessieren vor allem der Prolog, Gylfaginning und einzelne Teile von Skáldskaparmál. Die Forschungslandschaft hierfür ist enorm weit gefächert, häufig handelt es jedoch um quellenkritische, religionswissenschaftliche oder aber auch narratologische Fragen.1 Häufig mit solchen Fragen verbunden, steht auf einer anderen Seite ein materialgerichteter Zugang mit dem Schwerpunkt auf die handschriftliche Überlieferungssituation. Besonders in der frühen Phase der Edda-Forschung, die geprägt von editorischen Fragen ist, liegt der Schwerpunkt auf der Erschliessung des „besten“ Edda-Textes. Das Ziel ist, so nahe wie möglich an die Urfassung, bzw. möglichst nahe an den Text des angenommenen Verfassers, Snorri Sturluson, heranzukommen. Mit den Entwicklungen der new philology kommen auch in der skandinavistischen Mediävistik neue Fragen auf und man beginnt sich von der reinen Stemma-Forschung zu entfernen sowie einzelne Textzeugnisse für sich stehend zu betrachten. Trotz der häufigen Beteuerung skandinavistischer Mediävisten, man folge den Prämissen der new philology und suche nicht mehr nach einer „Urfassung“ eines Textes, findet man bis heute solche Ansätze. Beispielhaft für viele andere steht hier Annette Lassens Rezension von Heimir Pálssons Edition des Codex Upsaliensis:

      Snorri’s Edda has been transmitted in four almost complete manuscripts and in a number of fragments. Generally, the Codex Regius of Snorri’s Edda (GKS 2367 4to) is believed to come closest to Snorri’s original. This manuscript is thought to have been written in the first quarter of the fourteenth century. The Codex Trajectinus (Utrecht 1374), which is a copy from ca. 1595 of a now lost medieval manuscript, is closely related to the Codex Regius. From ca. 1350, we have the Codex Wormianus (AM 242 fol.), which preserves a text of Snorri’s Edda with a number of learned interpolations. Finally, there is the Codex Upsaliensis (DG 11 4to), believed to be slightly older than the Codex Regius and written ca. 1300, which preserves a third redaction of the text that is generally considered to be abridged in comparison to the other redactions.2

      Obwohl Lassen hier die allgemeine Meinung zitiert und später bestätigt, dass alle Versionen der Edda von Interesse sind, lassen die hervorgehobenen Aussagen eine Wertung der verschiedenen Manuskripte vermuten. Auch Heimir Pálssons Edition selbst verfolgt sehr traditionell die Suche nach der dem „Original“ ähnlichsten Version der Edda, wie Daniel Sävborg in seiner Rezension dazu zeigt:

      Heimir Pálsson claims, in conflict with the standard view, that U represents an earlier version than RTW, but that also the RTW version is, to a large extent, a work by Snorri, who made a new version of his own work; Heimir Pálsson even claims he can place the two versions in distinct parts of Snorri’s biography. Where previous scholars have seen shortening in the U text Heimir Pálsson often sees expansion in RTW. Where the versions diverge more, he instead argues that RTW and U are based on different oral versions and thus not have a common at all original.3

      Es sind Zuschreibungen dieser Art sowie die bloss vermeintlich eindeutige Bestimmung der Edda als „Snorri’s Edda“, die diese Arbeit bestärken, bestimmter den Überlegungen der new philology zu folgen und jede überlieferte Handschrift als eigenständiges Werk, das eine genaue Untersuchung lohnt, anzusehen. Thomas Krömmelbein ist ein früher Vertreter eines solchen erweiterten Verständnisses der P-E. Er hebt die Leistung jedes einzelnen Verfassers einer Version der P-E hervor mit dem Ziel „[…] to sharpen our perception of the macroform Snorra Edda and thus of its preserved final states.“4

      Erst ab den 1980er Jahren eröffnet sich durch dichtungstheoretische Fragen ein weiterer Bereich in der Erforschung der Prosa-Edda: Nun interessieren neben den mythographischen Texten auch die nicht-erzählenden Teile von Skáldskaparmál oder das Versmassverzeichnis Háttatal. Deren Analyse zielen darauf ab, die Skaldik als Dichtungsgattung besser zu verstehen.5

      Die verschiedenen Forschungsbereiche nähern sich der Suche nach einer übergreifenden Funktionsbestimmung für die P-E an. Es ist allgemein anerkannt, die Edda als eine ars poetica für die skaldische Dichtung zu bestimmen. Angelegt als Handbuch für angehende Dichter bzw. Skalden, unterrichten die mythographischen Teile über die Inhalte der Dichtung (die nordische Mythologie), während die anderen Teile über die formalen Bedingungen (z.B. die Arten der dichterischen Umschreibung) Auskunft geben. Trotz diesem gemeinsamen Verständnis bleibt meist eine Trennung der Forschungsbereiche bestehen: Entweder man interessiert sich für die erzählenden Teile der P-E oder für ihre poetologischen Aspekte. Was fehlt, ist ein verbindender und gesamtheitlicher Blick auf das Gesamtwerk, das heute Prosa-Edda genannt wird.6

      1.2.2 Neuer Zugang

      Diese Arbeit versucht, die P-E unter einer Perspektive zu lesen, welche die oben beschriebenen getrennten Forschungsbereiche verbindet. Das Ziel ist eine ganzheitliche Lektüre, die beide Bereiche der P-E – den thematischen und den sprachtheoretisch interessierten – verknüpft. Die gelehrte sprachtheoretische Ebene soll in den Zusammenhang mit einer literaturwissenschaftlichen (narratologischen) Perspektive gebracht werden. Dieser Ansatz soll nicht nur poetologische Verfahren offenlegen und das avancierte Medienwissen der Prosa-Edda sichtbar machen: Er schliesst auch die Frage nach der Überlieferung und Kompilation der Texte mit ein und öffnet so den Blick auf die mediale Dynamik in der isländischen Literatur des 13. Jahrhunderts.

      Die Grundlage der Arbeit bildet die Beobachtung, dass in der P-E auf vielfältige Weise über Sprache, Dichtung und Erzählen als je spezifische Arten von Kommunikation nachgedacht wird. Das geschieht, indem mit traditionellen Erzählformen (eddischen Liedern, genealogischen Narrativen etc.) gespielt und dabei die Grenzen und Möglichkeiten eines neuen Erzählens ausgelotet werden. Die verschiedenen Texte machen Gebrauch von der Möglichkeit, durch Sprache und Erzählen die Welt zu vermitteln und zu ordnen sowie die eigene Vermittlung zu hinterfragen. Die P-E ist sich ihrer literarischen Konstruiertheit also sehr bewusst und thematisiert sie auf vielen Ebenen. So drehen sich nicht nur die als „pragmatisch“ bezeichneten Textteile (wie z.b. die Versmasslehre Háttatal und Teile der Dichtungslehre Skáldskaparmál) um Dichtung, indem sie deren Funktionsweisen erklären. Die dichtungstheoretischen Teile stehen auch in einer engen Beziehung zu denjenigen Textteilen, die auf den ersten Blick wenig mit einer Dichtungslehre verbindet. Tatsächlich zeigen aber auch diese Texte grosses Interesse an sprachtheoretischen Fragestellungen: Sowohl im Prolog als auch in Gylfaginning und Skáldskaparmál geht es um Dichtung, Erzählen und deren Potenzial zur Sinnstiftung in der Welt. Deshalb gehören auch sie in eine an sprachtheoretischen Fragen orientierten Lektüre miteinbezogen.

      In eine solche Lektüre gehören zudem auch Texte, die bis anhin nicht unter dem „Titel“ Prosa-Edda verstanden werden: Je nach überlieferter Handschrift sind es unterschiedliche Texte, die sich an den kanonischen Edda-Text angliedern.1 Für diese Arbeit sollen alle Texte des Codex Upsaliensis miteinbezogen werden. So gehören zur P-E plötzlich auch ein grammatischer Traktat oder verschiedene genealogische Listen. Ebenso müssen die verschiedenen medialen Phänomene integriert werden: Neben dem Text kommen in Codex Upsaliensis Illustrationen und diagrammatische Formen hinzu, zusätzlich sind die Eigenheiten des Layouts zu beachten. Liest man die Inhalte, Formen und Besonderheiten einer Handschrift im Kontext, erlaubt das neue Einsichten sowohl für die jeweiligen Einzeltexte

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