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Lektüre liegt deshalb auf den Stellen, die sichtbar machen, was für ein Bild von Sprache, Literatur und deren Bedingungen und Möglichkeiten die Prosa-Edda in U vertritt bzw. entwirft. Interessant dafür sind auffällige Bruchstellen oder Momente der Grenzüberschreitung zwischen verschiedenen, d.h. alten und neuen Modellen des Erzählens.2 Von Interesse sind solche Stellen gerade deshalb, weil sie der Diskussion um das Potenzial von Sprache eine weitere Dimension hinzufügen. Nicht immer ist nämlich klar, ob es sich um provozierte Brüche und Grenzüberschreitungen handelt oder ob es unbewusst entstandene Uneindeutigkeiten sind.

      An den mythographischen Textteilen der P-E lässt sich die Absage an mythologische Konzepte mitverfolgen, die aber gleichzeitig als Grundlage der traditionellen skaldischen Dichtung präsentiert werden. Sowohl die heidnische Mythologie als auch (damit untrennbar verbunden) die skaldische Dichtung werden von einem Bestreben zur Erneuerung und Aktualisierung erfasst: Die P-E sucht nach einer Möglichkeit, die einheimische kulturelle Praxis auch für die Gegenwart relevant zu erhalten.

      Das Werk stellt die Frage nach der Vermittelbarkeit der mündlichen einheimischen Dichtung im Kontext der lateinischen Buchkultur: Wie erklärt man eine Dichtung, die von der Uneindeutigkeit lebt und sich selbst als „verhüllt“ bezeichnet, wenn das höchste Ziel der lateinischen Gelehrsamkeit die eindeutige Beschreibung und Erfassung der Welt ist?

      Die gleichzeitige Orientierung an den skaldischen Vorbildern der Vergangenheit und die lustvolle Annahme der neuen sprachlichen Möglichkeiten der Buchkultur gehören zu den interessantesten Strategien textueller Selbstbehauptung in der Prosa-Edda. Die selbstreflexive Art und Weise mit einer solchen medialen Dynamik umzugehen, ist einzigartig in der volkssprachlichen Literatur des skandinavischen Mittelalters.

      Die textuellen und materiell-medialen Strategien, die für eine Überwindung der Geltungskrise der alten sprachlichen Modelle (und damit für das durch die Dichtung vermittelte, eigene kulturelle Gedächtnis) erprobt werden, sollen systematisch beschrieben werden. Damit kann ein möglichst breiter Überblick über in der P-E entworfenen Modelle von Erzählen und dem Verständnis von Sprache gewonnen werden. Für den Überblick werden ausgewählte Stellen verschiedener Werkteile einer Lektüre unterzogen. Die Auswahl ist keinesfalls erschöpfend, sie repräsentiert aber wichtige Momente in der mittelalterlichen isländischen Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen von Sprache. Im Kern geht es dabei immer um die Frage, wie sich in einem Text und durch einen Text Sinn und Bedeutung generieren lassen.

      Um die Lektüre zu systematisieren wird ein Theorieansatz an die P-E herangetragen, der in den letzten Jahren in den verschiedensten Disziplinen vielfältig erprobt und diskutiert worden ist. Es handelt sich dabei um den Diskurs des Performativen oder der Performativität, der in der skandinavistischen Mediävistik bislang noch nicht sehr bekannt ist. In je unterschiedlicher Weise geht es in diesem Diskurs um das Potenzial von Sprache und sprachlichen Handlungen, Einfluss auf die Wirklichkeit nehmen zu können. Das ist der Schnittpunkt mit der P-E, der eine Lektüre des mittelalterlichen Werks entlang bestimmter Prämissen des aktuellen Diskurses lohnend machen kann.

      1.3 Korpus: Was ist die Prosa-Edda?

      Die Prosa-Edda ist eine moderne Erfindung: Es gibt kein einzelnes Werk, das diesen Namen trägt, sondern verschiedene Versionen in unterschiedlicher Gestalt, an und mit denen über viele Jahrzehnte gearbeitet worden ist. In einem ersten Schritt gilt es folglich zu klären, was es eigentlich ist, was wir Prosa-Edda nennen: Von den mittelalterlichen Texten selbst spricht bloss eine Version von der Edda. Die Bezeichnung findet sich in einer Rubrik im Codex Upsaliensis. Das, was in Editionen aus dem 19. und 20. Jahrhundert und häufig auch in aktuellen Übersetzungen als Prosa-Edda präsentiert wird, entspricht nicht dem, was uns in der titelgebenden Version von Codex Upsaliensis überliefert ist. Möchte man sich mit der Prosa-Edda in der Form, wie sie uns in den mittelalterlichen Handschriften entgegentritt beschäftigen, so stellt sich zusätzlich die Frage, welches die beste Version ist. Die älteste oder die vollständigste Version? Diese Schwierigkeiten stemmatologischer Forschung betreffen diese Arbeit nicht, denn gemäss den Überlegungen der new philology hat jede mittelalterliche Handschrift ihren eigenen Wert und ist ein eigenständiges Werk, das eine Lektüre lohnt.1 Es ist deshalb wichtig, sich immer im Klaren zu sein, was man genau meint, wenn man von der Prosa-Edda spricht.

      Wie erwähnt, betitelt eine Rubrik am Anfang von Codex Upsaliensis bestimmte Textteile als Edda und führt weiter aus, dass sie von Snorri Sturluson zusammengesetzt resp. gedichtet seien.2 Allerdings entsprechen die in der Rubrik genannten Texte nicht den Bestandteilen, die tatsächlich im Codex Upsaliensis zu finden sind. Definiert man das Werk rein textimmanent und hält sich an die angegebenen Teile, so beschränkt sich die Prosa-Edda auf einen Prolog, Gylfaginning, Skáldskaparmál sowie Háttatal.3 Ausschliesslich diese Teile schreibt die Rubrik in U dem Kompilator Snorri Sturluson zu und nennt sie Edda. Die folgenden Lektüren zeigen, dass zu den genannten Teilen noch weitere Inhalte dazutreten. Die materielle Einheit des Textes entspricht folglich nicht der textuellen Einheit.

      Die Überlieferung der P-E in spätmittelalterlicher bis in frühneuzeitlicher Zeit zeigt aber auch, dass das Werk je nach Kopieranlass unterschiedlich aufgefasst worden ist. Zur Vereinheitlichung und Kanonisierung auf vier Texte ist es erst während der neuzeitlichen Beschäftigung mit der P-E gekommen. Die folgenden Lektüren sollen auch die zusätzlichen Bestandteile der Handschriften in den Blick nehmen und so ein flexibleres und offeneres Verständnis der P-E schaffen.

      1.3.1 Lektüreschwerpunkt Codex Upsaliensis

      In letzter Zeit sind neue Editionen der einzelnen Edda-Handschriften erschienen und auch verschiedene Arten von Digitalisaten machen die Arbeit nahe an den Handschriften einfacher.1 Codex Upsaliensis DG 11 4to (von nun an U genannt) steht im Zentrum dieser Arbeit. Die Wahl fällt nicht auf diese Edda-Version, weil U die älteste erhaltene Edda-Handschrift ist, sondern aufgrund der zahlreich enthaltenen verschiedenen medialen Phänomenen, die diese Handschrift so einzigartig machen. Als Kompilation konzipiert, bilden die unterschiedlichen Teile zusammen den Codex Upsaliensis.2

      Die Handschrift wird auf ca. 1300 datiert und enthält mehrere Teile, die nicht dem kanonischen Bild der P-E entsprechen, das durch die modernen Editionen und Übersetzungen vermittelt wird.3 Mit dem kanonischen Text werden auch genealogische Listen, grammatische Diagramme und Bilder zusammengestellt. Diese Bestandteile sind alles Organisationsformen von Wissen, die bisher noch ungenügend in eine Lektüre der Prosa-Edda eingeflossen sind. Im Vergleich zu den komplexen medialen Phänomenen in U sind in Codex Wormianus (W) und Codex Regius (R) keine derart unterschiedlichen Ausprägungen der Buchkultur zu finden. Zwar überliefert W die vier Grammatischen Traktate zusammen, was für eine sprachzentrierte Lektüre der Edda interessant erscheint. Allerdings fehlen in W die Diagramme des Zweiten Grammatischen Traktats und damit die spezifische mediale Ausgestaltung des Textes. Es ist wichtig, solche Eigenheiten in eine rein textbasierte Lektüre einzubeziehen, vor allem, wenn dahinter so klare planerische Absichten wie in U erkennbar sind. Diese planerischen Absichten werden in der Forschung nicht immer gesehen: Mehrfach wird der Version der P-E, wie sie uns im Codex Upsaliensis vorliegt, ein unzusammenhängender Kompilationscharakter zugeschrieben. So meint z.B. Heinrich Beck:

      Der Schluss liegt nahe: Der Codex Upsaliensis ist keine Komposition, in der die Teile einem Gesamtplan folgen. Es ist eher der Gedanke einer Kompilation zu erwägen, d.h. einer Sammlung von Materialien, die ungleichen Alters oder abweichender Konzeption sein konnten. Auch der Einschub des Skáldatal mitsamt den Sturlungen-Materialien und die Einbeziehung des sog. 2. Grammatischen Traktates sprechen für den Kompilationsgesichtspunkt.4

      Dass eine Kompilation nicht per se aus unzusammenhängenden Texten besteht, wird im Codex Upsaliensis allerdings sehr deutlich. Gerade die Einfügung der von Beck genannten Listen (Skáldatal etc.) stellt einen klaren Rahmen für die Lektüre der Kompilation dar. Wie zu zeigen sein wird, wirken die verschiedenen Texte aufeinander ein und sollten deshalb unter einer gemeinsamen Perspektive gelesen werden. Auch die mise en page und die gesamte Handschriftenkomposition

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