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denke, ich sollte etwas tun, um den Menschen dort zu helfen. Vor allem den Frauen. Für sie ist es am allerschlimmsten.«

      »Warum das, Liebes? Üben sie nicht leichtere Arbeiten aus als die Männer?«

      »Das dachte ich auch. Die Männer schuften bei den Docks, oder der Metropolitan Railway, und die Frauen … nun, du weißt schon. Manche nähen, oder waschen und bügeln Wäsche, oder sie sind Straßenverkäuferinnen. Aber das Geld, das sie dabei verdienen, reicht nicht aus. Sie können sich entweder Essen oder ein Bett für die Nacht kaufen. Und viele müssen zusätzlich noch ein Kind durchfüttern.«

      »Die Lebensbedingungen dort sind grausam«, stimmte Robert ihr zu.

      »Es bleibt ihnen gar keine andere Wahl, als ihre Körper zu verkaufen.« Lilo merkte, wie sie sich in eine Wut hineinredete. »Und wir beide wissen, was das bedeutet. Krankheiten breiten sich aus. Die Frauen werden schwanger. Manche versuchen, das Ungeborene loszuwerden, und sterben daran. Andere bekommen das Kind, und haben dann noch ein hungriges Maul mehr zu stopfen.«

      Robert beugte sich vor und küsste Lilo leidenschaftlich. »Ich bin so stolz auf meine fortschrittlich denkende Frau.«

      »Wie? Was meinst du?«

      »Oh, wenn ich an meine Mutter oder meine Schwestern denke – wenn sie überhaupt jemals mit dem Thema Prostitution beschäftigen, dann sind sie sicherlich genauso empört darüber, wie du es bist. Aber sie würden das Handeln dieser Straßenmädchen moralisch verurteilen. Du dagegen denkst praktisch und blickst auf die Ursachen.«

      Meine Mutter war die Dorfhure. Und nicht freiwillig, dachte Lilo bitter. Aber auch das gehörte zu den Dingen, die Robert nicht von ihr wissen durfte.

      »Ich würde gerne etwas für diese Frauen tun.«

      »Woran denkst du, Liebes?«

      »Ich habe ein paar Ideen. Vielleicht kann man zumindest manchen dieser Frauen helfen, eine andere Arbeit zu finden. Und es gibt Schulen und Armenküchen, die wir unterstützen könnten.«

      »Willst du ihnen Geld geben?«

      »Ich glaube, am sinnvollsten wäre es, ihnen direkt Lebensmittel zu spenden. Dann verschwindet unterwegs kein Geld, weißt du.«

      »Du denkst wirklich scharfsinnig, Liebes. Schick ihnen, was du willst. Ich weise meinen Bankier an, ein eigenes Konto dafür einzurichten. Sei vernünftig, ja? Ich kann nicht ganz Whitechapel durchfüttern.«

      »Ich bin wirklich froh, dich getroffen zu haben.«

      Dieses Mal war sie es, die ihn innig küsste.

      »Natürlich bist du das«, neckte er sie. »Ein ärmerer Mann könnte dir solche Wünsche nicht finanzieren.«

      Sie lachte. »Das stimmt. Aber auch nicht jeder reiche Mann würde mir Geld geben für diese Dinge. Du hast ein gutes Herz, Robert.«

      »Du hast noch ein Anliegen«, sagte er augenzwinkernd. »Sonst würdest du mir nicht so schmeicheln.«

      »Nur eine kleine Bitte. Ich würde mir diese Schulen und Armenküchen gerne selbst ansehen. Aber alleine traue ich mich nicht, nach Whitechapel zu gehen.«

      »Das ist auch gut so.«.

      »Ich habe heute mit Foley gesprochen, und er wäre bereit, mich zu begleiten. Er sagte, er besäße einen Shilley … Shilla … Ich weiß das Wort nicht mehr genau.«

      »Shillelagh

      »Genau. Was ist das?«

      »Eine Mischung aus Spazierstock und Knüppel. Die Iren verwenden sie als Waffe. Es überrascht mich nicht, dass er damit umzugehen weiß.«

      »Erlaubst du mir hinzugehen, wenn er mich begleitet?«

      »Nur, wenn du sehr, sehr vorsichtig bist. Nimm am besten noch jemanden mit. Einen der Stallknechte – vielleicht Oliver?«

      »Das verspreche ich.«

      »Ich könnte dir sowieso nichts verbieten. Können wir nun zu Bett gehen, Liebes?«

      »Gerne.« Sie schmiegte sich an ihn.

      Als Lilo am nächsten Tag mit Foley, Oliver und ihrer Zofe Bessie mitten in Whitechapel stand, war sie trotz aller Vorwarnungen schockiert.

      Das ist nicht nur ein Armenviertel, dachte sie angewidert. Es ist ein dreckiges, stinkendes, verseuchtes Elendsviertel.

      Sie hatte extra ein einfaches Kleid aus Baumwolle angezogen, eines, das sonst das Hausmädchen zum Putzen trug. Trotzdem raffte sie ihre Röcke, damit der Saum des Kleides nicht mit dem Dreck und den Fäkalien in Berührung kam, welche hier offen durch die Gosse flossen.

      Ihre gesamte Umgebung war abstoßend. Die Gassen Whitechapels waren so eng und verwinkelt, dass man mancherorts die Häuser links und rechts des Wegs gleichzeitig berühren konnte. Der Boden bestand an vielen Stellen nur aus festgestampftem Lehm, der nach den Regenfällen der letzten Tage zu einer knöcheltiefen Schlammschicht geworden war. Überall lag Unrat herum, Ratten huschten über die Straßen, und dem Geruch nach entleerte mehr als ein Bewohner des Viertels regelmäßig seinen Nachttopf auf die Straße.

      »So eng, wie die Gassen hier sind, sind sie nachts sicher nur unzureichend beleuchtet«, sagte Lilo und zeigte auf eine der wenigen Gaslaternen.

      »Nachts ist es hier stockfinster, My Lady«, stimmte Oliver zu.

      »Die ganze Gegend ist ein Nährboden für Krankheit und Verbrechen«, ergänzte Foley. Er hielt seinen Shillelagh in der rechten Hand und zeigte ihn demonstrativ einer Gruppe magerer Straßenkinder, die daraufhin etwas Abstand hielten.

      »Wo genau sind wir?«, fragte Lilo. In dem Gassengewirr hatte sie völlig die Orientierung verloren.

      »Baker’s Row, My Lady.«

      »Eine der Armenküchen sollte hier in der Nähe sein. In der Hanbury Street.«

      Lilo sah sich suchend um. Zwar waren viele Menschen auf der Straße, doch niemand, den sie ansprechen wollte. Sie war hier so offensichtlich fremd, dass jedermann sie unfreundlich und misstrauisch anblickte.

      Straßenhändler trugen Körbe mit Gebäck oder Fisch, arbeitslose Tagelöhner strichen umher, und zwei ältere und offensichtlich angetrunkene Huren warteten auf Kundschaft. Nur ein Bettler mit einem lahmen Bein sprach sie an, doch auch er stank so sehr nach Gin, dass Lilo ihn nicht nach dem Weg fragen wollte. Sie gab ihm rasch eine Münze, und er taumelte weiter. Nach ihm drängte sich ein Mädchen mit einem völlig entstellten Gesicht an Lilo vorbei, gefolgt von zwei Jugendlichen, die jeder ein Bündel Leinen trugen. In all dem Schmutz um sie herum wirkte das saubere Tuch seltsam deplatziert. Lilo sah ihnen erstaunt nach.

      »Gestohlenes Leinen, My Lady«, erklärte Bessie. »Die Kinder klettern über die Mauern von reichen Haushalten, und stehlen das Tuch von den Wäscheleinen. Dann müssen sie nur noch eingestickten Initialen heraustrennen, und können es an einen Pfandleiher verkaufen. Es ist für sie einfacher als Taschendiebstahl.«

      »Hast du das Mädchen vorhin gesehen? Sie war bestimmt schon das dritte oder vierte Kind mit so einem missgestalteten Gesicht.«

      »Man nennt das phossy jaw, My Lady« mischte Foley sich wieder in das Gespräch ein. »Die Mädchen, die in Streichholzfabriken arbeiten, bekommen alle früher oder später so ein Gesicht. Ihre Zähne fallen aus, und die Kieferknochen schmelzen einfach weg. Man sagt, es liegt an dem Phosphor, der für die Streichhölzer verwendet wird.«

      »Wie schrecklich.« Lilo war ehrlich entsetzt.

      »My Lady hat wahrscheinlich nicht von dem Streik in der Bryant and May Factory gehört? Das war, während Sie mit Sir Robert verreist waren.«

      »Es sagt mir nichts«, musste Lilo zugeben.

      Sie schämte sich, weil sie wahrscheinlich von derartigen Vorgängen auch dann nichts mitbekommen hätte, wenn sie in London gewesen wäre. Sie hatte sich nie besonders für die Dinge, die in den Zeitungen

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