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den angenehm frischen Duft des Pfefferminztees. Als er wieder aufsah, tauschten sie nur einen langen, bedeutungsvollen Blick aus. Nach so langer Zeit gab es nicht mehr viel zu bereden.

      Ein Fluch band Jakob und Lilo aneinander. Seit fast vierhundert Jahren versuchten sie nun schon, diesen zu brechen, doch bisher war ihnen damit kein Erfolg beschieden.

      Jakob Wolff und Lieselotte Wagner waren Hexer. Im Jahr 1494 war Jakob im deutschen Greiz wegen Hexerei angeklagt worden. Ironischerweise war es ein Scheinprozess gewesen, nichts als ein Vorwand seiner Feinde, um ihn loszuwerden, und die Ankläger hatten rein gar nichts von seinen tatsächlich vorhandenen hexerischen Fähigkeiten gewusst. Dennoch hatte man ihn damals zum Tode verurteilt. Lilo hatte alles versucht, um ihn zu retten, und sich in ihrer Verzweiflung letztlich auch dunkler Künste bedient. Die Rettung war ihr gelungen, jedoch zu einem entsetzlichen Preis. Jakob und Lilo konnten seitdem nur weiterleben, wenn sie jährlich ein Menschenleben opferten. Und erst am Vortag hatten sie diesen Preis wieder einmal bezahlt.

      »Jedes Jahr schwöre ich mir wieder, dass ich es nicht mehr tun werde«, sagte Jakob leise.

      Lilo erwiderte nichts, doch sie griff nach Jakobs Hand und drückte sie fest. Ihre Haut war warm und weich, und Jakob genoss es, sie zu spüren. Tief in seinem Inneren wusste er, dass er allen Gewissensbissen zum Trotz auch im kommenden Jahr wieder bereit sein würde, das Opfer zu bringen. Zu töten, um selbst weiterzuleben.

      Jakob sah Lilo an. Ihr kupferrotes Haar war zu einer komplizierten Frisur aufgesteckt, und ihre Augen erinnerten ihn an grünlich schimmernde Bergseen. Nach allgemeinen Maßstäben war sie nur hübsch, doch für ihn war sie die schönste Frau der Welt. Die Liebe seines Lebens. Manchmal hasste er sie dafür, dass sie mit ihrem missglückten, teuflischen Ritual diesen Fluch über sie beide gebracht hatte. Doch er verstand sie. Ihre Liebe war stärker als jede Moral.

      »Eines Tages, Jakob …«

      »Eines Tages gelingt es uns. Wir werden den Fluch brechen«, sagte er fest.

      »Und dann ein ganz normales Leben führen. Wir werden nicht mehr alle paar Jahre weiterziehen müssen, nicht mehr ständig die Namen wechseln …«

      Lilo blickte von Jakob weg, und er erriet ihre Gedanken. Mehr als alles andere wünschte Lilo sich ein Kind. Sein Kind. Doch so lange der Fluch andauerte, war sie zur Unfruchtbarkeit verdammt.

      »Es wird uns gelingen«, wiederholte er, und sie nickte entschlossen. Ihr Lächeln war kämpferisch. Lilo besaß die bemerkenswerte Fähigkeit, noch immer optimistisch in die Zukunft zu blicken.

      Lilo schob Jakobs Ärmel sanft zurück und betrachtete die verkrusteten Male an seinem Handgelenk. »Sie heilen bereits.«

      »Nur noch ein paar Tage, dann sind sie wieder verschwunden. Na ja, bis auf die üblichen Narben.«

      »Und die anderen Wunden?«

      »Leicht schmerzhaft, aber nicht der Rede wert.«

      Natürlich wusste sie, dass er log. Die Wunden waren ein Teil des Fluchs, peinvolle Erinnerungen an die Folter, die er damals im Zuge seines Prozesses hatte erleiden müssen. Er trug Fesselmarken an den Handgelenken, Peitschenstriemen auf dem Rücken, eine Schnittwunde auf der Stirn und eine Brandwunde auf der Brust. Immer an den Jahrestagen der Marter brachen die Wunden wieder auf.

      »Die Schmerzen nehme ich gerne auf mich«, sagte er entschieden.

      Auch das war wieder eine Lüge. Jakob hasste die Schmerzen und die damit verbundenen Erinnerungen. Aber gerade darum fand er es wichtig, sie zu durchleben. Es war Teil seiner Buße.

      »Es tut mir einfach so weh, dich leiden zu sehen. Jedes Jahr wieder.«

      Lilo stand auf und holte die Teekanne vom Ofen, wo Jakob sie warmgestellt hatte. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er nicht weiter darüber diskutieren würde.

      »Was war das, das du vorhin dem Zeitungsjungen gegeben hast?«, wechselte sie das Thema.

      »Toby? Wieso?«

      »Ich habe ihn nur weglaufen sehen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Du hast dem Burschen irgendwas geschenkt.«

      »Nur Lindenblütentee.«

      »Es spricht sich sicher schon wieder in der Nachbarschaft herum.«

      »Was?«

      Lilo schenkte ihnen ein und trug dann die Kanne zum Ofen zurück, bevor sie antwortete. »Dass der Betreiber dieser Filiale von Tarleton Fine Teas sich nicht nur auf das korrekte Aufbrühen von Earl Grey und Breakfast Tea versteht, sondern auch andere Kräutermischungen kennt.«

      »Nicht jeder kann sich einen Arzt leisten.«

      »Und wie immer hilfst du ihnen umsonst.«

      »Der Laden läuft gut, ich kann es mir leisten.«

      »Du bist ein guter Mensch, Jakob«, sagte sie warm.

      Er zuckte mit den Schultern. »Ich helfe den Menschen gerne.«

      »Das kann ich nachvollziehen.«

      »Vielleicht solltest du dann etwas Ähnliches versuchen?«

      »Was, als Heilerin auftreten?« Lilo lachte. »Das wäre eine Schau. Lady Tarleton als Kräuterweiblein. Ich wäre der Klatsch in ganz London.«

      »Ich meine es ernst. Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, anderen Menschen zu helfen. Um für unsere Sünden zu büßen.«

      »Ich meinte es auch ernst«, erwiderte sie nachdrücklich. »Jakob, du bist ein geborener Heiler. Ich habe viel von dir gelernt. Ich kann dir assistieren, Verbände anlegen und nach deinen Anweisungen Rezepturen zubereiten. Aber es ist weder meine Berufung noch meine Gabe, echte Heilkunst auszuüben.«

      »Du könntest andere Dinge tun.«

      »Woran denkst du?«

      Zu Jakobs Überraschung klang Lilo ehrlich interessiert, und sie sah ihn aufmerksam an. Das jährliche Opfer belastete wohl auch ihr Gewissen mehr, als sie zugeben wollte.

      »Die Lebensbedingungen vieler Leute hier in London sind entsetzlich. Sieh dir Jungen wie Toby an – er arbeitet von Tagesanbruch bis tief in die Nacht, jeden Tag, und hat nicht einmal ein Zuhause. Er kauft sich sein Essen von Straßenhändlern oder manchmal im Pub, und wenn er dann noch Geld übrig hat, dann kann er sich für die Nacht ein Bett in einem boarding house mieten. Das ist kein Leben für ein Kind. Niemand sollte so leben müssen.«

      »Ich habe gehört, dass es jetzt Schulen gibt für solche Straßenkinder. Sie nennen sich ragged schools. Weil die Kinder in rags, Fetzen, gekleidet sind, und deshalb nicht in den anständigen Sonntagsschulen geduldet werden.«

      »Das zu unterstützen wäre sicher eine gute Sache. Oder die Armenküchen, in denen jedermann eine warme Mahlzeit bekommt.« Jakob sah Lilo ernsthaft an. »Du sagtest doch erst neulich, dass du seit der Hochzeit mit Robert mehr Geld zur Verfügung hast, als du ausgeben kannst.«

      »Da hast du Recht.«

      Auf einmal klang Lilo sehr nachdenklich. Sie strich über den Stoff ihres blauen Seidenkleides, und Jakob konnte beinahe ihre Gedanken lesen. Lilo liebte jede Form von Luxus, war verschwendungssüchtig und eitel. Aber sie hatte auch niemals vergessen, dass sie als Kind Lumpen getragen und Hunger gelitten hatte. Während Jakob als Sohn eines Apothekers eine größtenteils recht angenehme Kindheit gehabt hatte, konnte Lilo das Leid der Armen aus eigenen Erfahrungen nachfühlen.

      »Ich denke darüber nach.« Lilo stand auf und strich ihren Rock glatt. »Ich sollte gehen. Bestimmt hat mich jemand hereinkommen sehen, und es sieht schon ein wenig seltsam aus, wenn ich zu lange bleibe.«

      Auch Jakob stand auf und brachte Lilo zur Tür.

      »Sei vorsichtig«, sagte er, während er aufschloss.

      »Womit?«

      »Wenn du so eine Armenküche oder Schule ansiehst. Geh nicht alleine in die Armenviertel, bitte. Dort geschehen täglich schlimme Dinge.«

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