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ist nicht das Schlimmste, was einem dort geschehen kann.«

      Jakob gestikulierte vage zu der immer noch auf der Ladentheke liegenden Zeitung, und Lilo verstand sofort, was er meinte.

      »Diese armen Frauen«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich verspreche es dir, ich passe auf mich auf.«

      Kapitel 2

      »Wohin nun, My Lady?«

      Lilos Kutscher half ihr einzusteigen und kletterte dann auf seinen eigenen Sitz.

      »Ich möchte etwas spazieren gehen, Foley. Fahren wir zu einem Park.«

      »Vielleicht Hyde Park, My Lady?«

      »Nein, ich will niemandem begegnen, den ich kenne. Battersea Park wäre mir lieber.«

      Sie fuhren los. Lilo kuschelte sich unter eine warme Decke und wärmte ihre Hände an einer bronzenen Heißwasserflasche. Ihre Kutsche war eine sogenannte Victoria, ein elegantes, offenes Gefährt, das derzeit in der Londoner Gesellschaft große Mode war. Robert hatte sie ihr zur Hochzeit geschenkt, damit sie sich jederzeit selbständig durch die Stadt bewegen konnte, und sie benutzte die Kutsche fast täglich.

      Noch immer konnte Lilo ihr Glück kaum fassen, einen Mann wie Robert getroffen zu haben. Sir Robert Tarleton war ein erfolgreicher Unternehmer, der von seinem Vater ein Kolonialwarengeschäft und den Titel eines Baronet geerbt hatte. Binnen weniger Jahre hatte Robert aus dem einzelnen Ladengeschäft eine florierende Kette von Teegeschäften gemacht, die er nun an Kleinunternehmer verpachtete. Inzwischen gab es in ganz London Filialen von Tarleton Fine Teas.

      Erst vor wenigen Monaten hatte Jakob unter dem Alias Jacob Vitt eine dieser Filialen übernommen. Lilo hatte sich damals als seine Verkäuferin ausgegeben, und so Sir Robert kennengelernt. Der junge und gutaussehende Unternehmer hatte sie sehr beeindruckt, da er trotz seines raschen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstiegs kein bisschen arrogant war. Schon kurz darauf hatten sie geheiratet.

      »Foley?« Lilo beugte sich vor und zupfte den Kutscher am Rockschoß, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Auch, wenn sich das nicht gehörte.

      »Ja, My Lady?«

      »Ich habe mich umentschieden. Nicht zum Battersea Park. Fahren Sie mich nach Whitechapel.«

      Foley zügelte das Pferd und hielt am Straßenrand an.

      »Mit Verlaub, My Lady, das ist nicht möglich. Die Straßen sind dort teilweise so eng, dass wir selbst mit einem Einspänner nicht durchkommen werden. Und die Gegend ist zu gefährlich für Sie.« Foley sah sie streng an, und als sie nicht gleich antwortete, setzte er hinzu: »Es gibt dort Straßen, in denen die Polizei niemals patrouilliert. Und sicherlich haben Sie von den grässlichen Vorfällen dort gehört.«

      Lilo nickte. Foley spielte auf die gleichen Ereignisse an, wie Jakob es vor wenigen Minuten getan hatte.

      »Sie meinen diese beiden ermordeten Straßenmädchen, die im Frühjahr ermordet wurden. Die Zeitungen haben ausführlich darüber berichtet. Martha Tabram und … wie hieß die Zweite doch gleich? Ein ganz gewöhnlicher Name, nicht wahr?«

      »Emma Smith.«

      »Genau, jetzt erinnere ich mich.«

      Überfälle, Vergewaltigungen, Totschlag und sogar Mord waren leider in den Armenvierteln Londons keine Seltenheit. Praktisch täglich berichteten die Zeitungen über derartige Vorkommnisse, und das sensationsgierige Publikum verschlang alle Einzelheiten darüber – nur, um die Fälle dann sofort zu vergessen. Doch die Morde an den Prostituierten Emma Smith und Martha Tabram waren so spektakulär gewesen, dass man sich auch Wochen und Monate später noch daran erinnerte.

      »Man müsste ihnen irgendwie helfen. Den Anderen«, überlegte Lilo.

      »Wem, My Lady? Den ... gefallenen Mädchen?«

      Lilo lachte über seine gestelzte Ausdrucksweise. »Es hilft den Frauen nicht, sie vornehm zu umschreiben, Foley. Ja, ich meine die Prostituierten. Die Huren. Mit anderer Arbeit verdienen sie nicht genug, um sich Essen und Unterkunft kaufen zu können. Kein Wunder, dass sie sich verkaufen.«

      »My Lady, es ist nicht nur Essen und Unterkunft, das sie sich verdienen müssen. Viele von ihnen kaufen vor allem Gin.«

      »Foley, würden Sie sich in dieser Situation nicht auch ihr Leben schöntrinken?«

      »My Lady sind sehr verständnisvoll.«

      Foley sah sie skeptisch an, und Lilo ahnte, was er dachte. Wieder einmal benahm sie sich nicht wie eine echte Lady, sondern verriet ihre niedere Herkunft. Wie Robert Tarleton und all seine Angestellten ging auch der Kutscher davon aus, dass Lilo als Lizbeth Maybrick geboren worden war; eine verarmte Pfarrerstochter aus Dorset, die nach dem Tod ihres Vaters in London als Verkäuferin ihr Glück gesucht hatte.

      »Ich bin nur ehrlich«, sagte sie. »Foley, ich verberge nicht, wo ich herkomme. Ich hatte das Glück, mit Mr Vitt einen Arbeitgeber zu finden, der mich nicht ausgenutzt hat. Und dann Sir Robert zu treffen. Es ist eine Geschichte wie in einem Märchen. Aber für wie viele Mädchen ist diese Geschichte anders ausgegangen. Wie viele junge Dinger kommen nach London, suchen sich eine Stelle als Verkäuferin oder Gouvernante, und finden sich nach wenigen Monaten mit einem Kind im Bauch auf der Straße wieder? Wer stellt sie dann noch ein? Was sollen sie tun, außer ihren Körper zu verkaufen? Ich hätte genauso dort auf der Straße landen können. Deshalb will ich diesen Frauen helfen.«

      Foleys Gesichtsausdruck hatte sich während ihrer entschlossenen Rede verändert. Erst hatte er sie erstaunt angestarrt, aber nun sah er sie ungewohnt warm und freundlich an.

      »Ich rate Ihnen weiterhin, sich von Whitechapel fernzuhalten. Aber falls My Lady doch einmal dorthin gehen möchte …«

      »Was ist dann?«

      »Ich erlaube mir lediglich, darauf hinzuweisen, dass eine starke männliche Begleitung sicherlich von Nutzen wäre. Und dass ich eine gewisse Begabung im Umgang mit einem shillelagh habe.«

      Den letzten Satz hatte er absichtlich mit so breitem irischem Akzent gesprochen, dass Lilo lachen musste.

      »Das merke ich mir. Gut, Foley, fahren Sie mich heim. Ich muss ein paar Dinge mit meinem Mann besprechen.«

      Lilo hatte erst am späten Abend Gelegenheit, mit ihrem Mann zu sprechen. Als erfolgreicher Geschäftsmann war Robert Tarleton den ganzen Tag über unterwegs, und zum Dinner hatten sie Gäste eingeladen. Erst danach saßen sie im Salon zusammen und erzählten einander von ihrem Tag.

      »Du siehst erschöpft aus, Liebes.« Robert griff nach Lilos Hand und drückte sie zärtlich. »Geht es dir gut?«

      »Aber ja.«

      »Und was ist dann das hier?« Robert strich über die Fingerspitze von Lilos linken Zeigefinger, die ein wenig angeschwollen war.

      »Ich habe mich heute Nachmittag gestochen, als ich ein Taschentuch besticken wollte. Ich war so in Gedanken, dass ich unachtsam war.«

      Robert sah sie ernsthaft an. »Das ist untypisch für dich. Und du wirkst die letzten Tage immer leicht abwesend. Ist wirklich alles in Ordnung?«

      »Ich habe über etwas nachgedacht.«

      Lilo rutschte nervös auf ihrem Sitz hin und her. Was ihr wirklich im Kopf herumging, das konnte sie Robert nicht sagen. Ende August war für sie und Jakob immer eine schwierige Zeit. Auch wenn Lilo längst nicht so sehr von Schuldgefühlen geplagt wurde wie Jakob, litt sie in diesen Tagen oft unter Albträumen. Dennoch war sie – wie jedes Jahr – vor allem froh darüber, dass Jakob sich entschlossen hatte, erneut das Opfer zu bringen. Zu töten und weiterzuleben, für ein weiteres Jahr.

      Im Laufe der Jahrhunderte war Lilo auch mit anderen Männern zeitweise glücklich gewesen. Manche von ihnen hatte sie geheiratet, und auf ihre Art sogar geliebt – so, wie sie jetzt aufrichtig in Robert verliebt war. Dennoch war Jakob der Fixstern, um den sich ihr ganzes Leben drehte.

      »Worüber

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