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November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts. Klaus Gietinger
Читать онлайн.Название November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts
Год выпуска 0
isbn 9783960540762
Автор произведения Klaus Gietinger
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Gegen den bevorstehenden Prozess sollte gestreikt werden.83 In einem Lokal in der Sophienstraße versammelten sich 30 Obleute um den Dreher Richard Müller und beschlossen den Generalstreik. Schon am nächsten Tag, am 28. Juni, streikten 55 000 Metallarbeiter in Berlin (Borsig, AEG, Löwe und Schwartzkopff). Am darauffolgenden Tag schlossen sich nochmals mehrere Berliner Betriebe an, sodass insgesamt 75 000 Arbeiter die Arbeit niederlegten. Die Verurteilung Liebknechts konnte nicht verhindert werden. Er erhielt im November über vier Jahre Zuchthaus. Zahlreiche Streikteilnehmer wurden – verhöhnt von der Parteiführung der SPD als »Kriegsverlängerer«84 – zum Kriegsdienst eingezogen. Gewerkschaftsfunktionäre zögerten nicht, ihre rebellischen Mitglieder an die politische Polizei zu verraten.85 So zitiert ein Protokoll des Oberkommandos in den Marken einen Gewerkschaftsführer: »Gegen den Terrorismus (gemeint sind geplante Streiks, KG) müsste vorgegangen werden.« Er sei bereit, »eine Liste von weiteren Hetzern vorzulegen«, und bat um »finanzielle Unterstützung«.86 Folge waren meist Verhaftung und Kriegsdienst an der Front. Letzteres wirkte durchaus abschreckend und demoralisierend – wer wollte schon verheizt werden?87 Gleichzeitig war diese Maßnahme ein zweischneidiges Schwert, denn so wurden auch die Fronttruppen agitiert.88
Der folgende Winter – der berühmte Steckrübenwinter 1916/17 – war katastrophal, die Versorgungslage schrecklich. Tausende verhungerten, es kam zu Brotrevolten.89 Schließlich folgte ein neuer Streik im April 1917, wieder organisiert von den Obleuten und wieder kam er von der Basis und nicht von den Parteien. Und diesmal waren es schon zwischen 200 000 und 300 000 in Berlin – und nicht nur dort.90 Auch in Halle, Magdeburg und Leipzig war Ausstand angesagt.91 Müller wurde schon bei der Vorbereitung festgesetzt – vermutlich wieder durch Denunzianten in der Führung des Deutschen Metallarbeiter Verbandes (DMV), der traditionellen Gewerkschaft – und trotz seiner extremen Sehschwäche zum Kriegsdienst eingezogen. Neben der Lebensmittelversorgung war auch die Freilassung Müllers eine Forderung der Streikenden. Adolf Cohen, der Stellvertreter Müllers, der die Politik der alten Gewerkschaftsführung vertrat, blies den Streik aufgrund einer Zusage der Militärs, man würde Müllers Verhaftung überprüfen, wieder ab. Und obwohl sich die USPD-Führung, darunter Wilhelm Dittmann, Ledebour und sogar Haase, für die Fortsetzung des Streiks einsetzte, brach er am 23. April endgültig zusammen. Die Parteiführung der SPD und die Gewerkschaftsführungen hatten sich gegen den Streik ausgesprochen und schickten sogar Ergebenheitsadressen an General Groener von der OHL.92 Wieder folgten Repression, Verhaftungen, Denunziationen und Einzug als Kanonenfutter. Gleichzeitig hatten sich erstmals Streikkomitees, also Räte, gebildet, die allerdings noch keine rätedemokratischen Forderungen stellten. Müller, als hochqualifizierter Facharbeiter, entkam nach drei Monaten wieder dem Militärdienst. Die Zusammenarbeit der Obleute mit der Spartakusgruppe und der USPD ging weiter, obwohl es immer mal wieder zu Reibereien kam. Die Spartakusgruppe neigte zum Aktionismus. Gleichzeitig war sie, da sie weniger im Verborgenen agierte als die Obleute, Ziel obrigkeitsstaatlicher Angriffe. Ihre Flugschriftenzentrale wurde ausgehoben, und sie war von Spitzeln unterwandert, sodass die Obleute übervorsichtig agieren mussten. Weitere Streiks wurden jetzt von der USPD organisiert. Eine erste Marinerevolte der Matrosen aufgrund schlechter Essensversorgung 1917 führte zu zahlreichen Zuchthausstrafen und auch Todesurteilen, zwei Matrosen, Albin Köbis und Max Reichpietsch, wurden exekutiert.
Die USPD, die lose Verbindung zu den Matrosen gehabt hatte, war nun verschärfter staatlicher Repression ausgesetzt. Luise Zietz (USPD) und andere wurden inhaftiert. Liebknecht und Luxemburg saßen schon längst. Der Aufruf der Zimmerwalder Bewegung im September 1917 (in Schweden) zum Massenstreik gegen den Krieg fiel bei den gemäßigten USPD-Führern wie Haase nicht auf fruchtbaren Boden. Auch die Oktoberrevolution in Russland führte zu keinen großen Solidaritätsstreiks. Der Einfluss von Spartakus in den Betrieben war relativ gering. Gleichwohl ließ die Revolution in Russland Hoffnung aufkeimen.
Die Führung der traditionellen Gewerkschaften dagegen versuchte weiter im Zusammenspiel mit dem Repressionsapparat die widerständigen Netzwerke aufzudecken, zu denunzieren und die meisten Reorganisationsversuche im Keim zu ersticken.93
Abb. 8 Köbis und Reichpietsch auf DDR-Briefmarken des Verfassers
Die Arbeiterbürokraten in der SPD-Führung verstanden sich derweil mit den Herrschenden im Reich recht gut. Legien und Bauer suchten die OHL schon im Oktober 1917 (im belgischen Spa) auf, um im Tausch gegen ein wenig Sozialreform-Versprechen dem faktischen Militär-Diktator Ludendorff zu versichern, dass man die Massen im Griff habe und jede Unterbrechung der Arbeitstätigkeit in der Rüstungsindustrie bekämpfe, da sie »geeignet sei, die ›Widerstandskraft‹ der Front zu verringern«94. Ludendorff kabelte daher beruhigt dem Kriegsamt, die Arbeitervertreter hätten »offenbar die gute Absicht, dahin zu wirken, dass ihre Arbeiterschaft ruhig bleibt und ihre Pflicht tut«95. Gleichzeitig wurden die Arbeiter- und Soldatenräte der russischen Februar-Revolution 1917, die mehrheitlich keine Bolschewisten waren – zu einem Zeitpunkt, als der Parteichef der Bolschewiki, Lenin, noch in Zürich weilte –, von Bauer schon als bolschewistisch bezeichnet. Während die Mehrheit der SPD gleichzeitig diese hauptsächlich noch bürgerlich geprägte Revolution, Monate vor der Oktoberrevolution, enthusiastisch beklatschte. Bauer erfand einen »negativen Mythos«, das Schreckgespenst einer Partei, die damals weder in der Mehrheit noch an der Macht war.96
Zu einem Massenstreik kam es erst wieder im Januar 1918, die Obleute hatten ihn geplant. Es gelang ihnen durch einen Kompromiss mit der Fraktion der USPD, alle ihre Abgeordneten für den Streik zu gewinnen. Sogar die SPD verlangte – auf Druck ihrer Betriebsvertrauensleute – jetzt mitzumachen, um den Streik, wie sich Ebert ausdrückte, »zum Abschluss zu bringen«97. Man ließ sie herein, Müller glaubte wohl, Teile der SPD nach links ziehen zu können. Wäre dies geglückt, hätte »eine breite Front« für Frieden und Demokratisierung bis hinein ins linksbürgerliche Lager entstehen können.98 Doch das war nicht im Sinne der SPD-Führer. Heilmann (einäugig und mit Kopfschuss aus dem Krieg zurück) und Curd Baake hatten sogar die Regierungsvertreter bestärkt, gegenüber den Streikenden unnachgiebig zu bleiben.
Trotz des Widerstands von Ebert und Scheidemann traten über 500 000 Arbeiter im Januar 1918 in den Streik.99 Für Frieden ohne Annexionen, Pressefreiheit und Demokratisierung. Ein Versuch also, mindestens die bürgerliche Revolution von 1848 nachzuholen. Überall im Reich entstanden spontan Räte. Der Streik wurde auch maßgeblich von Frauen getragen, meist ohne Namenseintrag in das Buch der Geschichte. Die Einzige, die es in den Vorstand der Obleute schaffte, war Cläre Casper-Derfert. Die Regierung lehnte Verhandlungen ab. Am 31. Januar wurde der verschärfte Belagerungszustand (so hieß damals die härteste Form des Ausnahmezustands) verkündet, der Streikausschuss verboten, Dittmann (USPD) verhaftet und zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Ebert, der auf freiem Fuß blieb, sagte auf einer Massenversammlung