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November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts. Klaus Gietinger
Читать онлайн.Название November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts
Год выпуска 0
isbn 9783960540762
Автор произведения Klaus Gietinger
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Abb. 6 Deutsche Soldaten mit Gasmasken und Muli
Jetzt wandte sich sogar der Revisionist Eduard Bernstein gegen Kredite.64
Als er im Mai 1915 im Reichstag gegen die Versenkung des amerikanischen Passagierdampfers »Lusitania« durch deutsche U-Boote protestierte, rief ihm sein Parteigenosse Bauer zu: »Auch Bismarck hat 1871 Paris ausgehungert.« Im Juni 1915 wandten sich Bernstein, Haase und Karl Kautsky in einem berühmten Aufruf gegen den Krieg.
Ebert: »Den Etat bewilligen wir dem Volke« – und nicht der Arbeiterklasse. »Würden wir jetzt das Budget ablehnen, so hieße das, der Regierung das Schwert aus der Hand schlagen.«65 Und sein Freund Bauer betonte, dass die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse mit denen um seine Existenz ringenden Deutschlands übereinstimmten.66
Haase trat im Dezember 1915 von seinem Posten als Fraktionsvorsitzender zurück und hielt im März 1916 – für die Führung der SPD unerwartet – eine flammende Rede gegen die Annexionspolitik der Regierung. Er begründete damit die Ablehnung weiterer Kriegskredite. Diese Rede veranlasste die führenden Männer der SPD zu Zwischenrufen67:
Scheidemann (SPD): »Drecksseele!«
Ebert (Parteivorsitzender SPD): »Schamloser Kerl. Frecher Halunke!«
Bauer (Generalkommission, SPD): »Die Judenjungen müssen raus!«
Legien (Generalkommission, SPD): »Mit der Judenbande muss Schicht gemacht werden.«
Damit meinten Bauer und Legien ihre Parteigenossen aus der Minderheit der SPD-Kriegsgegner: die Juden Oskar Cohn, Joseph Herzfeld, Arthur Stadthagen sowie Emanuel Wurm, Eduard Bernstein und Haase selbst. Einige SPD-Genossen versuchten zudem mit Fäusten auf ihren Ex-Fraktionsvorsitzenden einzuschlagen.
Die Spaltung der Partei war damit durch einfache Gewalt, garniert mit Antisemitismus, besiegelt. Haase und die anderen Dissidenten wurden aus der Fraktion ausgeschlossen68 und bildeten eine eigene sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft (SAG).
Der Ebert-Biograf Walter Mühlhausen erklärte 2006: »Die Minderheit zog die Konsequenz, verließ die Fraktion und bildete noch am gleichen Tag eine eigene Fraktion.« Nur »verließen« sie nicht die Fraktion, sie wurden hinausgeworfen.
1917 gründete sich aus der SAG, nachdem deren Mitglieder auch aus der SPD geworfen worden waren, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD), die durch die Kriegsgegnerschaft zusammenhielt, aber z. B. bei der Frage des Massenstreiks in mehrere Flügel zerfiel, von denen Liebknechts und Luxemburgs »Spartakusbund« am radikalsten links stand.
Die Verbliebenen nannten sich nun Mehrheitssozialdemokraten (MSPD). Fortan wird jedoch für diese Partei weiter das Kürzel SPD benutzt.
Die, die hinausgeworfen wurden und sich in der USPD sammelten, waren nur einig in ihrer Haltung gegen den Weltkrieg, es trennte auch sie das Für und Wider zum Massenstreik und später das zur Nationalversammlung bzw. Rätemacht. Bernstein, Kautsky, Haase und Dittmann fürchteten den Massenstreik und waren für die Nationalversammlung. Cohn, Däumig, Barth, Ledebour, Liebknecht und Luxemburg waren Räte- und Massenstreikanhänger.
Und die SPD-Führung machte nach der Spaltung Nägel mit Köpfen.
Die wichtigsten Parteizeitungen erlebten ihre Feuertaufe. Erst in Schwaben69, dann in Berlin. Dort wurde im Herbst 1916 mit der »Judenbande Schicht gemacht«. Die »Judenjungen« Rudolf Hilferding, Heinrich Ströbel, Arthur Stadthagen, Ernst Däumig und Ernst Meyer70 wurden aus der Redaktion der Schwäbischen Tagwacht hinausgeworfen. Auch »linke Arier« bekamen den Laufpass. So entzog man Clara Zetkin die Frauenzeitung Gleichheit und Karl Kautsky wurde aus der Neuen Zeit entfernt. Letzteren ersetzte man durch den qua »Augusterlebnis« zum Sozialimperialisten gewordenen Heinrich Cunow.71 Der Antisemitismus der führenden SPD-Männer galt nicht für rechte »Judenjungen«. Ernst Heilmann wurde nie aus der Chemnitzer Volksstimme verbannt. Und Friedrich Stampfer hielt den Vorwärts fortan auf Kurs. Als der Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht auf einer Friedensdemonstration im März 1916 verhaftet wurde, sprach sein ehemaliger Parteigenosse Landsberg von »krankhafter Nervosität«.72
Die Situation der arbeitenden Klassen im Ersten Weltkrieg
Der gigantische wirtschaftliche Aufschwung, den das Deutsche Reich Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts erlebte, führte nicht nur zum Weltmachtstreben der Herrschenden, sondern hatte auch extreme soziale Verwerfungen zur Folge und verhalf so der SPD zum rasanten Aufstieg.
Es bildeten sich drei große industrielle Zentren heraus: das Ruhrgebiet mit Kohle und Stahl, das mitteldeutsche Dreieck Halle, Leuna, Merseburg mit den Grundstoffindustrien, insbesondere der chemischen Industrie, und Berlin mit den Bereichen Metall, Elektro und Maschinenbau.73 Weitere Kohle- und Stahlzentren waren Oberschlesien, Ostpreußen und das Saarland. Aber auch in den Küstenstädten, in den teils noch agrarisch geprägten Gebieten in Württemberg, Baden und Bayern entstanden Großindustrien. Dies alles ging einher mit Konzentration, Kartellbildungen und dem Niedergang zahlreicher Handwerksbetriebe, aber auch Teilen der Textilindustrie.
Die sozialen Gegensätze verschärften sich aufgrund des Ersten Weltkriegs ab August 1914 durch den Burgfrieden, durch Zwangswirtschaft, Kriegssozialismus, Arbeitshetze, Kriegsdienst, Massensterben an den Fronten, Vernachlässigung der Konsumwirtschaft, Blockade der Alliierten, Hunger und Entbehrungen jeder Art.
Millionen Männer wurden in Uniformen, Jugendliche und Frauen in die Betriebe gezwungen.
Während gleichzeitig die Mangelwirtschaft zu Schwarzhandel, Spekulation, gigantischen Gewinnen der Kapitalisten und einem Leben in Saus und Braus für die Begüterten führten, blieben für die arbeitenden Massen vor allem Ausbeutung, Hunger, Kälte und Not.
Stiegen die Gewinne der Metallindustrie um 175 % und die der chemischen um 200 %, sank der tägliche Durchschnittskalorienverbrauch der Deutschen von 4000 Kalorien vor 1914 auf knapp über 2000 Kalorien 1918, wo fürs Überleben mindestens 3000 Kalorien benötigt werden.74 Die Versorgung mit Fetten und Eiweiß war mehr als mangelhaft, Fleisch, Eier und Milch nur für Wohlhabende zu horrenden Schwarzmarktpreisen zu haben.
Hunderttausende starben auch an der Heimatfront, Millionen erkrankten, magerten ab. Die militärisch-tayloristisch organisierte Kriegsproduktion mit gesteigerter Arbeitsintensität und verlängerten Arbeitszeiten führte zur physischen Erschöpfung vor allem in der Massenproduktion.75 Patriotismus und Annexionsgelüste verflogen bei den in der Industrie arbeitenden Massen, sollten sie je weit verbreitet gewesen sein.
Abb. 7 Anstehen für Erbsen
Auch die Angestellten und Beamten verloren aufgrund von wertlosen Kriegsanleihen und hoher Inflation ihr bescheidenes Vermögen. Löhne und Gehälter stagnierten. Die Mittelklasse stieg ab.
Die Arbeiterklasse war massenhaft in ihrer physischen Existenz gefährdet.
Am stärksten war die soziale Spaltung in der Lebensmittelversorgung zu spüren. Dies war der Nährboden für erste »Ausschreitungen« und soziale »Unruhen«.76
Die Massen gegen den Krieg
Konträr zu den Oligarchen im Parteivorstand zeigte sich an der Basis der SPD ab 1916 immer stärkerer Widerstand gegen den Krieg.77
Ausgehend von den Drehern in Berlin, entwickelte sich eine Art »Vortrupp des Proletariats«, um die 50–80 Mann, aus denen dann später die Revolutionären Obleute hervorgingen. Diese Avantgarde unterschied sich von der Lenins 1917 dahingehend, dass sie nicht autoritär von oben bestimmte, sondern sich immer auf die Mehrheit der Arbeiter stützte. Die Obleute waren keine Bolschewisten im Sinne Lenins, sondern in der ursprünglichen Bedeutung