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Animant Crumbs Staubchronik. Lin Rina
Читать онлайн.Название Animant Crumbs Staubchronik
Год выпуска 0
isbn 9783959913928
Автор произведения Lin Rina
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Wenn er einen gerade nicht herumscheucht wie einen Leibsklaven. Ja, dann vielleicht«, gestand ich ein und nahm die Tasse entgegen, die Henry daraufhin aus einer chinesischen Kanne mit Tee füllte.
»Ich bin stolz auf dich«, sagte Henry und lächelte das Lächeln eines großen Bruders.
Ich wusste nicht genau, wie das für ihn nun wirklich zusammengehörte, aber ich beließ es dabei und freute mich, keine Rüge von ihm zu bekommen.
Die Tasse balancierend, betrat ich das kleine Zimmerchen, in dem Mr Reed gerade einen Holzscheit im Ofen nachlegte.
»Mein Bruder ist unten und hat Tee mitgebracht«, informierte ich ihn und stellte die Tasse auf einen freien Platz zwischen die Bücher. Mr Reed hatte sie auf dem Tisch ausgebreitet, die Buchdeckel geöffnet, sodass das wellige Papier in der warmen Luft des Raumes trocknen konnte.
»Danke«, antwortete der Bibliothekar und erhob sich von dem Ofen. Seine Kleidung war nicht mehr so nass wie zuvor, sein dunkles Haar stand nun jedoch struppig vom Kopf ab. Ich verkniff mir ein Lächeln, denn sein schon beinahe unordentliches Erscheinungsbild ergab einen sehr viel sympathischeren Mann als den reservierten, starren Beamten, den er sonst mimte.
»Ihr Bruder?«, erkundigte Mr Reed sich und nahm die Tasse zur Hand. »Henry Crumb?«
»Ja«, bestätigte ich und es war ein seltsames Gefühl, dass die beiden sich kannten.
»Guter Student, Ihr Bruder«, antwortete er mir wie beiläufig und trank einen Schluck Tee, den er sichtlich genoss. Dann seufzte er und wandte sich mir zu. »So, am besten sollten Sie sich die beschädigten Bücher vornehmen und mir eine Liste der Anschriften der Herausgeber heraussuchen«, erklärte er mir und ich straffte die Schultern.
»Ich habe bereits damit begonnen«, gab ich zurück und drehte mich der Tür zu. Mr Reed wandte sich ebenfalls von mir ab, um sich wieder den Büchern zu widmen, doch ich konnte noch das Lächeln sehen, das sich heimlich auf seine Lippen gelegt hatte. Und für einen kleinen Moment war ich wirklich stolz auf mich.
Schon nach den ersten fünfzehn Büchern, die ich in den Akten nachschlug, stellte ich fest, dass mir alle Unterlagen der letzten zweieinhalb Jahre fehlten. Ich hatte keine Ahnung, wo ich sie suchen musste und auch nach mehrfachem Nachblättern fand ich keinen Hinweis darauf, dass man sie woanders untergebracht hätte oder sie entfernt worden wären.
Als ich Mr Reed darauf ansprach, erklärte er mir lediglich, dass er die Informationen in seinem Büro hätte und sie mir bringen würde, sobald er mit den Officers von der Metropolitan Police gesprochen hätte. Sie waren vor ein paar Minuten bei uns eingetroffen, um sich der Sache mit dem Überseekoffer anzunehmen. Sie äußerten eine Theorie über vorsätzliche Sachbeschädigung, einen Anschlag möglicherweise. Doch Mr Reed vertrat die Ansicht, dass es sich um einen Unfall handelte und einmal mehr ein Gepäckstück auf der Reise mit einem Luftschiff verloren gegangen war. Man versprach, darüber Erkundigungen einzuholen und eine Dreiviertelstunde später kam Mr Reed mit einigen losen Zetteln zu mir.
Es waren ein paar der Seiten, die ich gesucht hatte, aber längst nicht alle.
Ich erledigte, was ich mit dem wenigen, was mir zur Verfügung stand, schaffen konnte und verpasste mal wieder meine Mittagspause. Neben dem Aktenwälzen hatten sich nämlich noch viele andere Arbeiten angestaut, die mich auf Trab hielten. Die Zeitungen und der Archivgang zum Beispiel.
Die Liste in meinen Händen wurde immer länger und zum Ende hin fehlten mir nur noch acht Bücher, die sich nicht in den Akten finden ließen.
Ich suchte nach Mr Reed, um ihn danach zu fragen, doch er war unauffindbar. Ein älterer Herr mit Schiebermütze und nasser Hose sprach mich an und erkundigte sich wegen der neuen Fenster, die nun eingesetzt werden mussten. Ich vertröstete ihn damit, dass ich diesbezüglich keine Auskünfte geben konnte und suchte weiter nach dem Bibliothekar.
Erst Oscar gab mir einen Hinweis, dass Mr Reed so wie mittwochs auch am Freitag für gewöhnlich ab dem Mittag spurlos verschwand.
Obwohl ich an diesem Tag bislang recht gut auf diesen Mann zu sprechen gewesen war, grollte in mir nun die Wut wieder auf. Wie konnte er an einem solch chaotischen Tag einfach verschwinden? Ihm musste doch klar sein, dass es viel zu tun und eine Menge zu entscheiden gab, und dass ich weder die Erfahrung noch die Befugnis hatte, all das allein zu bewerkstelligen.
Die Zeit schritt trotzdem voran, noch drei weitere Menschen fragten mich nach wichtigen Entscheidungen, und als Big Ben endlich fünf Uhr schlug, war ich völlig entnervt, wütend und hatte immer noch die acht Bücher, die mir auf meiner Liste fehlten. Es ärgerte mich, das nicht abschließen zu können, und ich beschloss, mir die Unterlagen auf eigene Faust zu besorgen.
So schwer konnte es ja nicht sein, ein paar Akten aus einem Büro zu holen.
Ich wartete, bis Oscar und Cody um sechs gingen und sich mit ihnen auch die Türen der Bibliothek für heute schlossen. Ich hatte genug zu tun, um die zusätzliche Zeit zu füllen, und schlich mich anschließend nach oben. Gerne hätte ich behauptet, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte, in das Büro meines Vorgesetzten einzubrechen, doch dem war nicht so. Jahrelanges Lauschen an Türen hatte mein Gewissen abgestumpft.
Halb erwartete ich, die Tür verschlossen vorzufinden, aber sie war es nicht und so schob ich sie langsam in den Raum hinein.
Ich hatte viele Vorstellungen in meinem Kopf, wie der Raum dahinter aussehen mochte. Und doch stand ich wie gelähmt im Türrahmen, als sich Mr Reeds privates Reich vor mir auftat.
Damit hatte ich bei Weitem nicht gerechnet.
Der Raum war ein einziges Schlachtfeld. Bücher und Papiere bedeckten jeden freien Platz. Der Schreibtisch war zwischen den Stapeln darauf und drum herum kaum zu erkennen.
Die Fenster waren mit Vorhängen verdunkelt, die schief auf der Stange hingen, und aus jedem Schrank quoll das Chaos in den Raum hinein.
Ich holte tief Luft und schmeckte den Staub darin. Die Akten zu finden, die ich benötigte, würde sich wohl schwieriger gestalten, als ich angenommen hatte.
Das Zehnte oder das, in dem ich die Fronten klärte.
Ich war so müde wie noch niemals zuvor in meinem jungen Leben, das früher nur mit Müßiggang und dem Lesen im Bett angefüllt gewesen war. Alle Verantwortung und Terminpflicht hatte ich von mir ferngehalten und jetzt wusste ich auch wieso.
Lange nach Mitternacht wankte ich im Licht einer Laterne nach Hause und schlief auf dem Weg einzig aus dem Grund nicht ein, weil der permanente Nieselregen mir das Gesicht kühlte. Ich war selbst zu müde, um mich vor der Dunkelheit zu fürchten.
Das Haus meines Onkels sah bei Nacht genauso aus wie die Häuser rechts und links und starrte mir aus grauen Fenstern entgegen.
Mr Dolls machte mir auf, nachdem ich leise den Türklopfer betätigt hatte und betete, dass noch jemand um diese Uhrzeit wach war, um mich zu hören. Er war ordentlich bekleidet und hellwach, was mir den Schluss offenlegte, dass er wohl auf mich gewartet hatte. Der Butler beäugte mich besorgt, sagte aber nichts dazu, dass ich erst mitten in der Nacht nach Hause kam.
»Erzählen Sie es meinem Onkel und meiner Tante nicht«, bat ich ihn und er nickte, den gütigen Ausdruck unverändert auf seinem bereits mit Falten durchzogenen Gesicht.
»Wünschen Sie noch etwas zu essen, Miss?«, erkundigte er sich leise und nahm mir die Laterne ab, die im mit Kerzen erleuchteten Flur nicht mehr vonnöten war.
»Ich wünsche nur zu schlafen. Danke«, antwortete ich ihm schwach und spürte, wie meine Zunge langsam schwer wurde. Mühsam schleppte ich mich die Treppen hinauf in mein Zimmer, schälte mich aus meinen Kleidern und ließ alles achtlos zu Boden fallen. Es war mir egal, dass es keine Ordnung hatte und dass die Regennässe nun Gelegenheit bekam, Stockflecken auf dem Stoff zu hinterlassen. Ich hatte die letzten Stunden genug Ordnung geschaffen, um noch lange