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merkte, trug er eine getönte Brille.

      Dr. Berends hatte ihm vor drei Jahren eine erschütternde Eröffnung machen müssen.

      Sigfrit Stassen war mit seiner Tochter, sie war damals zweiundzwanzig gewesen, zu ihm gekommen und hatte ihn gebeten, sie zu untersuchen.

      Zuvor war Stassen schon bei zwei anderen Ärzten gewesen, und er hatte ihre Diagnose nicht akzeptieren wollen, aber es stimmte. Dr. Berends konnte nur bestätigen, was seine beiden Kollegen vor ihm diagnostiziert hatten: Gabriele Stassen war an multipler Sklerose erkrankt. Zu erfahren, dass seine geliebte Tochter an dieser heimtückischen Krankheit litt, war für Sigfrit Stassen niederschmetternd.

      Dr. Berends erinnerte sich noch genau an diesen schicksalsschweren Tag vor drei Jahren. Er hatte mit Sigfrit Stassen ein Gespräch unter vier Augen geführt.

      „Multiple Sklerose ... Meine Tochter ..hatte der Papierfabrikant erschüttert gesagt. Totenblass war er gewesen. „Wenn Sie das auch sagen, Herr Dr. Berends, dann ist wohl jeder Irrtum ausgeschlossen.“

      Der Chefarzt hatte bedauernd genickt. „Tut mir aufrichtig leid, Herr Stassen.“

      „Warum Gabriele?“, hatte Sigfrit Stassen mit brüchiger Stimme gefragt. „Sie hat in ihrem Leben noch nichts Böses getan. Sie ist mein ein und alles. Warum bestraft Gott sie auf diese grausame Weise?“

      Mit dieser Frage wurde Dr. Berends immer wieder konfrontiert. Warum? Warum ich? Warum meine Frau? Warum mein Bruder, meine Schwester, mein Kind?

      Warum?

      Es war eine Frage, die sich nicht hatte beantworten lassen. Das Schicksal hatte so entschieden, und niemand kannte den Grund.

      Sigfrit Stassen hatte mehr über die verfluchte Krankheit erfahren wollen, die seine Tochter befallen hatte.

      „Durch in die nervliche Substanz eingestreute Verhärtungsherde wird der Ablauf des komplizierten nervlichen Geschehens mehr oder minder nachhaltig beeinträchtigt“, hatte der Chefarzt erklärt.

      Stassen hatte niedergeschmettert den Kopf geschüttelt. „Bei meiner Gabriele...“

      „Dadurch“, war Dr. Berends fortgefahren, „entstehen als Anzeichen die mannigfaltigsten Nervenstörungen, wie übergroße Ermüdbarkeit der Beine, Unsicherheit der Hände, Sehstörungen, Sprachbehinderung, Lähmung der Gliedmaßen und dadurch bewirkte Gangstörung, Schwindel, Störungen des Gefühlssinns, Zittern, Veränderungen der Handschrift...“

      „O mein Gott.“ Stassen hatte die Hände vors Gesicht geschlagen.

      „Ebenso vielgestaltig wie das Krankheitsbild ist auch die Verlaufsweise der multiplen Sklerose“, hatte Dr. Berends gesagt. „Gewöhnlich erstreckt sich die Dauer auf viele Jahre, ja Jahrzehnte.“

      „Das arme Mädchen“, hatte der gebrochene Vater geschluchzt.

      „Auf erneute Schübe, während der Arzt Bettruhe zu verordnen pflegt, folgen ruhigere Zeiten, in denen sich die Symptome weitgehend zurückbilden können, aber meistens ist die Besserung nur vorübergehend. Zur Behandlung werden Chemotherapeutika, Hormon oder Vitaminbehandlung, Reiztherapie, Diätkuren und dergleichen mehr angewendet.“ Siegfrit Stassen hatte die Hände sinken lassen. Seine Augen hatten in Tränen geschwommen. „Und das Ende, Dr. Berends? Wie sieht das Ende aus? Ist es... der Rollstuhl?“

      „Es ist eine weitverbreitete Laienmeinung, dass jeder M.S.Kranke im Rollstuhl endet, Herr Stassen“, hatte der Chefarzt erklärt, „doch sie trifft zum Glück keineswegs zu. Man kann die Multiple Sklerose zwar nicht heilen, aber ihrem Fortschreiten in vielen Fällen Einhalt gebieten, beziehungsweise dieses erheblich verlangsamen. Wichtig ist allerdings eine körperliche und seelische Schonung. Auch nach Abklingen des akuten Stadiums sollte der M.S.Kranke in Zukunft jede körperliche Überanstrengung meiden, sich vor Erkältungen und Durchnässungen schützen und für eine ruhige geregelte Lebensweise Sorge tragen.“

      „Ich ... ich werde alles für Gabriele tun, was in meiner Macht steht“, hatte der Vater gefasst gesagt. „Die besten Ärzte sollen sich ihrer annehmen. Mein ganzes Vermögen bin ich bereit zu opfern, um Gabrieles Krankheit zu lindern.“

      „Die erste europäische Spezialklinik für Multiple-Sklerose-Kranke wurde schon vor 1969 am Effenberg bei Hachen an der Röhr im Kreis Arnsberg geschaffen“, hatte Dr. Berends gesagt.

      „Da werde ich Gabriele hinbringen! Als Privatpatientin. Man muss alles, alles tun, um ihr zu helfen. Darauf werde ich dringen.“

      Das war vor drei Jahren gewesen. In der weiteren Folge hatte Dr. Berends den Papierfabrikanten immer wieder gesehen, und Sigfrit Stassen hatte ihm von seiner Tochter erzählt.

      Dieser Sigfrit Stassen besuchte den Leiter der Wiesen-Klinik in dessen Büro.

      Veronika Baier kochte Kaffee, und der Papierfabrikant sagte zu einem Kognak nicht nein. Dr. Berends hatte ihn ihm angeboten, weil er den Eindruck hatte, der Mann würde ihn brauchen.

      Stassen wirkte müde und ausgelaugt, des Kämpfens leid? Dr. Berends nahm an, dass es Gabriele Stassen nicht gut ging, doch das war nicht der Grund für die Niedergeschlagenheit des Papierfabrikanten.

      Zum ersten mal in seinem Leben hatte Stassen zu viel riskiert, und prompt hatte er sich verspekuliert.

      Es waren nicht Geldgier und Gewinnsucht gewesen, die ihn dazu getrieben hatten. Er hatte sich wegen Gabriele auf dünnes Eis begeben , und war eingebrochen.

      Er hatte von einer neuen, supermodernen Klinik erfahren, in der M.S.Kranke nach den modernsten medizinischen Erkenntnissen behandelt wurden.

      Es war eine Privatklinik, und ein Therapieplatz kostete ein Vermögen, aber Stassen wäre bereit gewesen, dieses Geld für seine Tochter aufzubringen.

      Was ist schon Geld?, hatte er sich gesagt. Es ist dazu da, um ausgegeben zu werden, und ich könnte es nicht segensreicher verwenden als für Gabrieles Behandlung.

      Ihm wurde die Möglichkeit geboten, mit einem Schlag viel Geld zu verdienen, und er hatte mit beiden Händen zugegriffen, obwohl das Risiko diesmal nicht kalkulierbar gewesen war.

      Ein einziges Mal nur war er von seinen Prinzipien abgegangen, und schon hatte das zur Katastrophe geführt.

      „Jetzt ist der Karren total verfahren“, erzählte der Papierfabrikant dem Leiter der Wiesen-Klinik. „Zum ersten mal seit Bestehen des Unternehmens befindet es sich in den roten Zahlen. Ein Glück, dass das mein Vater nicht mehr erleben musste. Ich habe zu viel gewagt für Gabriele , und alles verloren. Ich kann ihr den Therapieplatz nicht finanzieren. Wahrscheinlich muss ich Arbeitskräfte entlassen. Vielleicht bin ich sogar gezwungen, die Fabrik zu schließen. Ich habe das Beste für mein Kind gewollt, und das Schlechteste erreicht.“

      „Steht es tatsächlich so schlimm um Ihre Firma?“, fragte der Mediziner und nahm einen Schluck vom Kaffee.

      Die Antwort war ein leidgeprüfter, tiefer Seufzer.

      Sigfrit Stassen nahm seine getönte Brille ab und massierte seine Nasenwurzel.

      „Ach, Dr. Berends, ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende.“

      „Ein Mann wie Sie gibt nicht so schnell auf, Herr Stassen, das glaube ich nicht.“

      „Man gewährt mir keine Zahlungsaufschübe mehr. Alle schreien nach ihrem Geld. Bei der Bank zuckt man bedauernd mit den Schultern. Man kann mir keinen Kredit geben. Das Geschäft ist ihnen zu unsicher geworden. Dabei würde ich das Geld gerade jetzt so dringend brauchen, um die Krise zu überwinden. Aber wer ist so verrückt, sein Geld in ein Unternehmen zu stecken, das nur noch Verluste erzielt?“

      Bei Dr. Berends klingelte es plötzlich.

      Alfons Eppler war ihm eingefallen, der Patient, der so sehr unter dem Steuerdruck stöhnte.

      „Vielleicht kann ich Ihnen helfen“, sagte der Chefarzt.

      Stassen sah ihn groß an. „Sie?“

      „Ich

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